Der deutsche Komponist schlechthin wird in Großbritannien von erstaunlich vielen Kennern verehrt. Die Beschäftigung mit seinem Werk hat hier eine lange Tradition.
Richard Wagner, heißt es, sei typisch deutsch: deutsche Opernstoffe, deutsche Texte und dazu noch Hitlers Lieblingskomponist. Dass solche Klischees in Kulturdingen nur wenig zutreffen, zeigt ein Blick auf Wagners Popularität außerhalb des deutschen Sprachraums.
Nur sechs Prozent der Deutschen kennen Richard Wagner nicht. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls eine ‚repräsentative‘ Umfrage, die der Stern dieser Tage in seiner Online-Ausgabe präsentiert. Während ich schon an der Richtigkeit dieser Aussage meine Zweifel hege, wundere ich mich beim nächsten Satz noch mehr. „Etwa die Hälfte der 18- bis 34-Jährigen“, heißt es, seien laut Umfrage daran interessiert, die Bayreuther Festspiele, das Mekka für Wagner-Enthusiasten, zu besuchen. Dabei dachte ich bis jetzt immer, die mir bekannten 18- bis 34-Jährigen seien unrepräsentativ, weil sie sich tendenziell mehr für Wagner interessieren als der Durchschnitt.
Der Anlass für die Umfrage ist Wagners Geburtstag, der sich (wie anscheinend 94 Prozent aller Deutschen wissen) dieses Jahr zum 200. Mal jährt und mit einer ganzen Reihe von Opernvorstellungen und Konzerten gefeiert wird.
Umso tragischer für mich, dass ich die Hälfte dieses Jubeljahres in Großbritannien verbringe, wo sich die Wagnerbegeisterung (im Vergleich zur deutschen, statistisch belegten Euphorie) eher in Grenzen hält. Dachte ich jedenfalls immer. Im Laufe der letzten Monate bin ich allerdings eines Besseren belehrt worden. Selbst in einer mittleren Großstadt wie Edinburgh gibt es am laufenden Band Wagneraufführungen und die Menschen, die ich bei solchen Gelegenheiten kennenlerne, sind größtenteils enthusiastischer und kenntnisreicher in Sachen Wagner, als ich das jemals von mir selbst behaupten würde. Eigentlich nicht verwunderlich, denn der britische Wagnerkult hat eine lange Tradition.
Hitlers Lieblingskomponist
Besonders im 18. und 19. Jahrhundert neigten die Briten dazu, ihre Musikikonen aus dem Ausland zu importieren – Händel, Haydn und Mendelssohn sind dafür nur die bekanntesten Beispiele. Wagner fand nach anfänglichen Schwierigkeiten in Großbritannien einen besonders treuen Verehrerkreis, dessen Vermächtnis noch heute in Wagner Societies und Opernkreisen weiterlebt. Doch auch im dunkelsten Kapitel der Wagnerrezeption gibt es eine englische Komponente. Houston Stewart Chamberlain, einflussreicher Theoretiker des rassisch-motivierten Antisemitismus, wurde zu Wagners posthumem Schwiegersohn und politischen Sachverwalter. Ihm hatte der junge Hitler seine erste Einladung nach Bayreuth zu verdanken. Winifred Wagner, die Frau von Wagners Sohn Siegfried, unter deren Leitung das Bayreuther Festspielhaus zum Haus- und Hoftheater der Nationalsozialisten wurde, war ebenfalls gebürtige Engländerin. Während Wagners Karriere im Dritten Reich in deutschen Diskussionen ständig präsent ist, scheint dem Problem in Großbritannien eine geringere Bedeutung beigemessen zu werden.
Vielleicht sind gerade deshalb Wagners politische Ansichten und seine posthume Verbindung zum Nationalsozialismus zentrale Themen in einem Seminar, das ich an der Universität belege. Meine anfängliche Wagner-Überheblichkeit legt sich schnell, als ich bemerke, dass sich meine englischen Kommilitonen teilweise sehr viel besser auskennen und die Diskussionen mühelos mit obskuren Wagnerzitaten auflockern. Manchmal wundere ich mich, was sie an einem angeblich so ‚deutschen‘ Komponisten wie Wagner so faszinierend finden. Als ich in die Runde frage, sagt Marina, angehende Opernsängerin: „Ich finde es interessant, wie ungewöhnlich er für die Singstimmen schreibt. Ich glaube uns allen gefällt sein unglaublicher Orchesterklang“.
Wenn wir im Seminar nicht gerade über Hitler, Schopenhauer oder sozialistische Bühnenästhetik diskutieren, sehen wir uns Wagnerinszenierungen an. Die erste Gelegenheit außerhalb des Kurses bietet sich uns dazu an einem Ort, an dem man Wagner nicht unbedingt vermuten würde: dem Kino. Wir besuchen eine ‚Aufführung‘ des Parsifal, Wagners letzter Oper, aufgezeichnet am Vorabend in der New Yorker Metropolitan Opera. Die Atmosphäre scheint mir ungezwungen und deshalb typisch undeutsch: das Publikum ist mit Popcorn und Softdrinks bewaffnet und zwischen den drei jeweils etwa eineinhalbstündigen Akten gibt es halbstündige Pinkelpausen, die auf der Leinwand von einem Countdown begleitet und jeweils mit einer kinotypischen Werbeorgie beendet werden. Auch wenn das ‚Oper im Kino‘-Konzept mehr junge Leute für das Genre begeistern soll – von unserem Kurs abgesehen bemerke ich meist nur ältere schottische Wagnerianer.
„Ich spreche Wagnerisch“
Ein etwas anderes Bild bietet sich im Festival Theatre, in dem wir ein paar Wochen später eine Neuinszenierung einer der ersten Wagneropern, dem Fliegenden Holländer, sehen. Dass die Aufführung von spürbar mehr jüngeren Menschen besucht wird, liegt vielleicht auch an der PR-Strategie der Scottish Opera, die die Produktion mit dem etwas vereinfachenden Zusatz „only love can set them free“ bewirbt. Anders als in Deutschland, wo Wagner gerne als Steilvorlage für exzessive Regietheaterexperimente genutzt wird, ist der Holländer, den wir an diesem Abend sehen, gemäßigt modern und wie die meisten britischen Produktionen leichter verdaulich. Das Gewagteste daran ist die Anpassung der nordischen Elemente des Stücks: Die Handlung ist in ein schottisches Fischerdorf verlegt und spielt in den sechziger Jahren; Sentas Geliebter Erik heißt plötzlich George und wird vom Jäger zum anglikanischen Priester.
Doch bei aller ‚Schottifizierung‘: gesungen wird immer noch auf Deutsch. Nicht ohne Grund, denn viele britische Wagnerianer verstehen Deutsch so gut, dass sie den Texten der Opern so mühelos folgen können wie das bei Wagnertexten überhaupt möglich ist. Als ich mich im Wagnerseminar umhöre und Jake, einen der glühendsten Wagnerverehrer im Kurs, nach seinen Deutschkenntnissen frage, sagt er stolz: „Ich spreche Wagnerisch!“ Daraufhin stellt er sich vor, in Deutschland zu sein und zu versuchen, mit einem auf Wagner beschränkten Wortschatz zu flirten – was natürlich damit endet, dass er von den als „freisliche Maid“ bezeichneten Frauen entweder abgelehnt oder gar nicht erst verstanden wird.
„Only love can set them free“
Manchmal scheint mir Wagners Deutsch für Muttersprachler eine größere Sprachbarriere zu sein. Für Zeilen wie Alberichs Verfluchung der Rheintöchter („Garstig glatter glitschiger Glimmer! … Nicht fasse noch halt‘ ich das schlecke Geschlüpfer!“) fremdschäme ich mich neben ihrer plumpen Alliterationen wegen vielleicht nur, weil ich sie zu gut und zu wörtlich verstehe. Ein typisches Beispiel für den unbekümmerten Umgang der Briten mit Wagners Texten ist eine Situation, die ich letztes Jahr in Bayreuth miterleben durfte. Während einer der Pausen von Tristan und Isolde saß mir auf einer Parkbank ein englisches Ehepaar gegenüber. Der Mann, in sein Textbuch vertieft, las seiner Frau den Text des folgenden Akts auf Deutsch vor, wobei ich von seiner Aussprache von Wörtern wie „himmelhöchstes Weltentrücken“ sowohl verstört als auch fasziniert war. Offenbar verstanden beide Deutsch so gut, dass es Sinn machte, den Text im Original zu lesen. Als die Frau gelegentlich nach der Bedeutung von Ausdrücken wie „der Welten-Ehren Tages-Sonne“ fragte, erwiderte ihr Mann, ebenso ratlos wie sie (und ich): „Forget about the meaning, it‘s about how it sounds.“
Auch wenn wahrscheinlich mehr als sechs Prozent der Briten noch nie in ihrem Leben von Richard Wagner gehört haben, ist das Interesse für sein Werk unter Kulturinteressierten groß und hat eine lange Tradition. Wie vereinfachend und oft schlichtweg falsch das Bild von Wagner als dem typisch deutschen und auf Deutschland beschränkten Komponisten ist, wird einem bei Aufführungen und Gesprächen hier immer wieder bewusst. Obwohl Wagners Opern in ihrer Sprache und Stoffwahl ‚deutscher‘ wirken als viele andere, erweisen sie sich trotzdem als erstaunlich anpassungsfähig und grenzüberschreitend.
Ohne den rezeptionsgeschichtlichen Ballast wird Wagner, scheint mir, im Ausland begeisterter und unvoreingenommener wahrgenommen als in Deutschland selbst. Aber vielleicht trügt der Eindruck bloß, und die Deutschen entdecken ihre Liebe zu Wagner neu. Laut Stern-Umfrage erklären jedenfalls 37 Prozent „sie hätten durchaus Interesse daran, sich weiter mit Richard Wagner und dessen Werk“ beschäftigen zu wollen. Dabei könnten sie sich ein Beispiel an den Briten nehmen.
von Tim Sommer aus Edinburgh, Schottland