Die 19. Heidelberger Literaturtage überzeugten mit breit gefächerten Themen
Das ganze Leben steckt voller Hierarchien. Wenn Jungs Fußball spielen, dann ist der Posten des Torwarts der unbeliebteste. Als Torwart kann man sich nicht hervortun, wie es als Stürmer möglich ist, man steht meistens herum, und wenn man ein Tor hereinlässt, muss man sich die Vorwürfe der anderen anhören. Deshalb wollen alle Jungs Tore schießen und keiner Tore halten.
Das weiß auch Pedro Lenz. Die Hauptperson seiner Geschichte stand nie im Tor, und doch wird sie von den anderen nur der Keeper genannt. Wieso, erfährt der Leser in seinem Buch „Der Keeper bin ich“, mit dessen Präsentation am Mittwoch, dem 5. Juni, die 19. Heidelberger Literaturtage eröffnet wurden. 18 Autoren fanden diesmal nach Heidelberg, darunter der Schweizer Lenz. Nach der feierlichen Begrüßung durch Oberbürgermeister Eckart Würzner, Wissenschaftsministerin Theresia Bauer und Verleger Manfred Metzner, einem der Hauptorganisatoren der Veranstaltung, begann das Festival am Mittwoch mit der Lesung von Passagen aus Lenz‘ Werk.
Auf tragikomische Weise schildert der Roman die Erlebnisse des Keepers, der im Gefängnis saß und nun in sein beschauliches Schweizer Heimatdorf zurückkehrt, ohne Zukunftsaussichten, aber fest entschlossen, von nun an ein ehrliches Leben zu führen. Seine Liebe gilt der Kellnerin Regula, die allerdings schon vergeben ist. Ihr Freund ist gutaussehend und vergleichsweise wohlhabend, hat aber charakterliche Defizite, die sich in der Art und Weise äußern, wie er mit seiner Freundin umspringt. Der Keeper geht davon aus, dass sie von ihm wegwill und einen neuen Mann sucht, liegt damit aber, wie er erkennen muss, offenbar falsch. Dennoch kann er sie beinahe für sich gewinnen, als er sie an seinen Kindheitserinnerungen teilhaben lässt, die plötzlich bruchstückhaft auftauchenden: Einst hatten nach einem verloren Spiel die anderen beschlossen, den Torwart zu verprügeln, dem sie die Schuld an der Niederlage gaben. Er hatte ihn damals verteidigt und die anderen mit den Worten „Der Keeper bin ich“ aufgefordert, es doch mit ihm aufnehmen, wenn sie sich trauten, was diese auch sofort taten. Selbst dann noch hatte er sie immer weiter provoziert, bis sie ihn bewusstlos geschlagen hatten, und seit diesem Tag heißt er der Keeper.
Mit subtilem Humor und zugleich einer eigenartigen, schwer greifbaren Melancholie wird das neue Leben des Keepers, sein Dorf und, in halbphilosophischen Erkenntnissen, sein Blick auf die Welt erläutert. Raphael Urweider, der den Roman vom Schweizerdeutschen – genauer gesagt dem Berner Dialekt – ins Hochdeutsche übersetzt hat und mit Pedro Lenz gemeinsam aus ihm vorlas, ist es gelungen, etwas vom Klang des Originals in die Übersetzung hinüber zu retten. Dass Lenz einige Passagen in seinem Heimatdialekt vorlas, die dann von Urweider noch einmal auf Hochdeutsch vorgelesen wurden, machte die Lesung auch zu einem linguistischen Erlebnis. Schweizerdeutsch zu hören ist eine interessante Sache, denn man versteht nichts, hat aber ständig das Gefühl, man könnte etwas verstehen. Diesem vielversprechenden Auftakt folgten bis zum 9. Juni vier weitere Tage mit je drei bis vier Veranstaltungen. Neue und bereits bekannte, teils preisgekrönte Autoren aus Deutschland, der Schweiz, Russland, Tunesien, Lybien, Frankreich und Spanien stellten ihre Werke vor. Mit dem Franzosen Guy Delisle war erstmals auch ein Comicautor vertreten. Mit der Vorstellung eines Jugendsachbuchs und einer Schreibwerkstatt hat man sich gezielt dem Anliegen gewidmet, auch Kinder und Jugendliche zum Lesen zu bringen.
Vom „Arabischen Frühling“ zum islamischen Winter
Einen Höhepunkt der Literaturtage stellte sicherlich der Maghrebtag am 7. Juni dar, der neben Lesungen und einer Filmvorführung auch eine Podiumsdiskussion bot, die sich dem ebenso aktuellen wie komplexen Thema des „Arabischen Frühlings“ – auch „Arabellion“ genannt – widmete. Was hat sich seit den ersten Erhebungen 2008 getan, wie haben sich die Revolutionen entwickelt, welche Kräfte gibt es? Darüber diskutierten mit dem lybischen Autor Ibrahim al-Koni, dem Buchautor und langjährigem Journalisten Mourad Kusserow sowie dem ARD-Korrespondenten Jörg Armbruster drei Kenner der Arabischen Welt. Manche Fragen wurden dabei erkennbar kontrovers diskutiert – etwa die, ob in Marokko tatsächlich eine Demokratisierung stattfinde. Einigkeit herrschte dagegen darüber, dass der „Arabische Frühling“ sich fast überall in einen islamischen Winter verwandelt hat: In Ägypten und Lybien haben Islamisten die Macht übernommen, und auch innerhalb der syrischen Opposition sind sie inzwischen tonangebend. Es ist das alte Dilemma so vieler Revolutionen: Diejenigen, die eine Revolution anfangen, sind selten diejenigen, die zum Schluss an der Macht sitzen.
In Ägypten und Lybien, weiß Armbruster zu berichten, ging der Protest von der aufgeklärten, meist demokratisch gesinnten Jugend aus, die sich an den politischen Verhältnissen ebenso störte wie an ihrer eigenen Perspektivlosigkeit. Vor allem die konservative Landbevölkerung aber wählte schließlich Islamisten wie die Muslimbrüder, weil sie oft den dörflichen Autoritäten entstammen, gut organisiert sind und über Jahrzehnte hinweg als einzige ein Sozialsystem betrieben. In Syrien ist die Situation etwas komplizierter, da hier eine proletarisierte Landbevölkerung auf die Straßen ging. Aber auch hier sind jene demokratischen Kräfte, die anfangs durchaus vorhanden waren, inzwischen fast völlig verdrängt. Bei alldem kann Armbruster dem „Arabischen Frühling“ aber dennoch etwas Positives abgewinnen: Er habe, so erklärt er, der Jugend in der Arabischen Welt ihre Macht gezeigt. Kein Herrscher könne es sich fortan mehr leisten, ihre Forderungen völlig zu ignorieren. Darin kann eine Hoffnung für diese Region liegen.
von Michael Abschlag