Die Frankfurter Buchmesse bescherte dem Gastland Brasilien viel Aufmerksamkeit – bleibt das auch in Zukunft so?
Gabriel García Márquez, Jorge Luis Borges, Mario Vargas Llosa – würde man hierzulande nach Literatur aus Südamerika fragen, unter den am häufigsten genannten Autoren wären wohl diese drei. Nicht ohne Grund, denn der Boom, der die lateinamerikanische Literatur in den 1970er und 1980er Jahren in Europa einer breiteren Leserschaft bekannt werden ließ, beschränkte sich fast ausschließlich auf Texte aus spanischsprachigen Ländern. Der brasilianischen Literatur hingegen blieb die internationale Anerkennung bis heute weitgehend verwehrt. Von Paulo Coelho und seinen ebenso esoterischen wie gut verkäuflichen Büchern einmal abgesehen sind den deutschen Lesern wohl kaum Namen brasilianischer Autoren geläufig – schon gar nicht die von Gegenwartsautoren.
Genau das zu ändern hatte man sich bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse vorgenommen, bei der Brasilien als Gastland mit mehr als neunzig Autoren vertreten war. Unter dem Motto „Brasilien – Ein Land voller Stimmen” wurden dabei rund 50 deutschsprachige Neuerscheinungen und Erstübersetzungen vorgestellt. Maßgeblichen finanziellen Anteil an dieser Imagekampagne hatte die brasilianische Regierung, die bis zum Jahr 2020 insgesamt rund 7,5 Millionen US-Dollar für Übersetzungen brasilianischer Literatur zur Verfügung stellen will. Von diesem Übersetzungsprogramm, organisiert von der Fundação Biblioteca Nacional, profitiert besonders die Generation der jungen Autoren, deren Werke ohne die staatliche Unterstützung wohl kaum einem internationalen Publikum bekannt werden würden.
Einer dieser Nachwuchsautoren ist der 1978 in Rio de Janeiro geborene João Paulo Cuenca, den das britische Literaturmagazin „Granta” 2012 zu einem der 20 besten jungen Schriftsteller Brasiliens kürte. Von der Literaturkritik einhellig als die Stimme einer neuen Generation gefeiert, setzt Cuenca sich in seinen Texten bewusst über stilistische und thematische Konventionen hinweg. Fast immer geht es darin um das Leben in der Großstadt, um den Zynismus der modernen Welt, dem man nur mit einer gehörigen Portion Hedonismus die Stirn bieten kann. Dass Cuencas Literatur über den brasilianischen Tellerrand schaut, wurde spätestens mit seinem letzten Roman, 2012 beim Münchner A1 Verlag erschienen, deutlich. „Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall”, kommt, in Tokio angesiedelt, ganz ohne brasilianisches Personal aus, hat aber dafür mit einem voyeuristischen Dichter und einer sprechenden Gummipuppe die vielleicht originellsten Figuren der brasilianischen Gegenwartsliteratur zu bieten.
Dass das auf Diversität gerichtete Motto der Buchmesse durchaus seine Berechtigung hatte, zeigt ein Blick auf den Debütroman Andréa del Fuegos. „Geschwister des Wassers”, mit dem renommierten Prémio José Saramago ausgezeichnet und pünktlich zur Buchmesse bei Hanser erschienen, wurde von der Kritik ebenso hoch gelobt wie die Romane Cuencas, und doch scheint del Fuegos Literatur aus einer ganz anderen Zeit zu stammen.
In komprimierter Sprache und schmuckloser Diktion daherkommend trägt ihr Roman deutliche Züge des magischen Realismus – jenes Stils, den man spätestens seit Gabriel García Márquez mit der lateinamerikanischen Literatur in Verbindung bringt. Anders als die urbanen Charaktere Cuencas sind ihre Protagonisten die einfachen Leute vom Land, deren Probleme von viel elementarerer Art sind.
In „Geschwister des Wassers” erzählt del Fuego die Geschichte dreier Kinder, die durch den plötzlichen Tod ihrer Eltern auf sich alleine gestellt sind. Nico, der Älteste von ihnen, verdingt sich bei einem Großgrundbesitzer, die beiden jüngeren Geschwister Júlia und Antônio werden in ein katholisches Waisenhaus verfrachtet. Während sich die Brüder nach einigen Jahren wieder begegnen, bleibt die Schwester, die es durch Adoption in eine weit entfernte Großstadt verschlagen hat, für den Rest des Romans von den beiden getrennt.
Del Fuegos stilistische Brillianz zeigt sich darin, wie sie immer wieder eine knappe Prosa mit poetischen Bildern anzureichern versteht. Obwohl manches an ihrem Roman nostalgisch anmutet, geht es darin doch auch um die unaufhaltsame Modernisierung, die vor allem die ländlichen Gebiete Brasiliens zunehmend erfasst. Das Heimatdorf der drei Geschwister etwa, in der Gebirgslandschaft der Serra Morena gelegen, fällt einem staatlich angeordneten Staudammprojekt zum Opfer und zwingt die Bewohner zum Kontakt mit der Außenwelt .
An zwei so unterschiedlichen Autoren wie Cuenca und del Fuego wird die ungeheure Bandbreite der brasilianischen Gegenwartsliteratur deutlich. Wie das Land selbst zeigt sie sich mal mondän der Zukunft zugewandt, mal der Vergangenheit hinterhertrauernd.
Ob die Buchmesse und die staatlichen Übersetzungsförderungsprogramme am Bekanntheitsgrad der brasilianischen Literatur etwas ändern werden, bleibt abzuwarten. Die Schaufenster der Buchhandlungen geben Anlass zum Optimismus. Woran sich mittlerweile jedoch fast niemand mehr erinnern kann: 1994 war Brasilien schon einmal Gastland der Buchmesse. Der Versuch, die brasilianische Literatur auf dem deutschen Markt zu etablieren, misslang damals. Bei jungen Autoren wie João Paulo Cuenca und Andréa del Fuego wünscht man sich, dass es dieses Mal anders sein wird.
von Tim Sommer