Für die, die alles verloren haben, ist Weihnachten besonders schmerzvoll. Initiativen in Heidelberg reichen Wohungslosen eine Hand
Heidelberg ist nicht Berlin, es gibt kein Kreuzberg, niemand denkt an Obdachlose in der Stadt der Studentenromantik. Dennoch gibt es um die 50 Obdachlose, welche sich hier dauerhaft aufhalten, schätzt die Stadt Heidelberg. Einige sind nur kurz hier.
Hart ist der Winter auf der Straße und besonders: zu Weihnachten. Das „Fest der Familie“ ist schlimm für die, die ihre Familie verloren haben. Obdachlose verbindet ein schweres Schicksal. Viele haben ihre Eltern früh verloren, nie eine gute Ausbildung erhalten, einige sind drogenabhängig. Die meisten verdrängen ihre Probleme, anstatt sie zu lösen. Und viele reden sich ein, freiwillig aus der Gesellschaft ausgestiegen zu sein – aus Selbstschutz, sagt der Sozialarbeiter Jürgen Hofherr vom „Karl-Klotz-Haus“ in Heidelberg. Dort arbeitet er täglich mit Obdachlosen.
Auch Manfred war schon im Karl-Klotz-Haus, dort kann er kostenlos frühstücken und für 1.50 Euro zu Mittag essen. Das Haus wird betrieben vom SKM Heidelberg, dem Katholischen Verein für soziale Dienste in Heidelberg und im Rhein-Neckar-Kreis.
Manfred ist 51 Jahre alt, kinderlos und seit drei Jahren ohne Wohnung. Seine Eltern starben bei einem Verkehrsunfall, er arbeitete als Fliesenleger in Frankfurt und half während dieser Zeit anderen Obdachlosen. Als seine Firma pleite ging und er seine Wohnung aufgeben musste, ging er auf die Straße. Seine beste Freundin glaubte ihm das nicht – er hat sie nie wieder gesehen. Auch zu seinem Bruder hat er keinen Kontakt mehr, das Verhältnis sei schon immer schlecht gewesen, sagt Manfred. Zu anderen Obdachlosen ebenso nicht, unter anderem, da der ehemalige Alkoholiker keinen Alkohol mehr trinkt und verdächtig wurde, ein Spitzel der Polizei zu sein. „Tiefe Freundschaften gibt es unter Obdachlosen nicht“, sagt er. Abwertende Reaktionen sind ihm egal, nur eine Beleidigung traf ihn: „Für dich wär‘ der Adolf mal wieder zuständig!“, soll ihm eine Gruppe Jugendlicher zugerufen haben. Er fragte einen Sozialarbeiter, wie er zurück in die Gesellschaft kommen könne. Dieser schickte ihn nach Frankfurt, doch er könne sich das Ticket nicht leisten und möchte in Heidelberg bleiben, sagt Manfred. Dies tut er auch aus Angst, in Frankfurt Bekannte zu treffen, die ihn ausfragen würden. Doch er möchte herunter von der Straße, da er Zukunftsängste hat und seine körperliche Verfassung schlecht ist. Jürgen Hofherr möchte zuerst Vertrauen zu Obdachlosen aufbauen, bevor er ihnen hilft. Es gäbe keine Standardlösung für die Probleme, sagt auch Manfred. So möchte man Obdachlosen die Chance geben, sich selbst zu helfen um wieder in die Gesellschaft zu gelangen. Dies zu schaffen, traut er ihnen zu.
Das Karl-Klotz-Haus bietet Obdachlosen eine Existenzsicherung an. Dazu gehören im Winter die Wohncontainer mit Duschen in Rohrbach. Diese sind spartanisch eingerichtet, damit sich dort niemand dauerhaft einrichtet, denn diese sind kein Wohnungsersatz, sondern eine Notlösung. Eine Krankenschwester kommt zwei mal pro Woche, um die Obdachlosen zu versorgen. Finanziert wird diese Einrichtung durch die Stadt Heidelberg und auch Spenden. Außerdem arbeiten dreißig Freiwillige im Karl-Klotz-Haus.
Es sei oft schwer, einen Zugang zu Obdachlosen zu bekommen. Insbesondere junge Obdachlose öffnen sich schwer, da sie vorher kaum eine Chance hatten, sozialen Umgang zu erlernen. Oft gibt es negative Nachricht en, einige sterben durch Drogen, erzählt Jürgen Hofherr. Häufig veranstaltet das Karl-Klotz-Haus Aktionen für Obdachlose, etwa eine Vernissage zum Thema „Menschen mit Problemen und Krankheiten“ oder Bootsausflüge. An Weihnachten wird es für Obdachlose im Karl-Klotz-Haus ein Weihnachtsessen und auch Musik geben. Außerdem wird ein Pfarrer zu Besuch kommen. „Weihnachten löst bei vielen unschöne Erinnerungen aus. Es ist ein Fest der Familie und dann erinnert man sich, dass man das eben nicht hat“, sagt Jürgen Hofherr.
Manfred fehlte in vielen Tagesstätten für Oberdachlose die menschliche Nähe, man werde einfach abgespeist. Er vermisst Sätze wie: „Komm vorbei und wir reden über dein Problem. Wie kann ich dir helfen?“ Im Sommer schläft er auf Styropor in einem verlassenen Haus, dessen Eigentümer ihm das erlaubte und er duscht in der SKM. In Heidelberg sind es insgesamt zumeist private Initiativen, die Obdachlosen wie Manfred helfen.
Die Kneipe „Betreutes Trinken“ in der Unteren Straße hat jedes Jahr am Heiligabend ein Weihnachtsbuffett für Obdachlose, spendiert vom Betreiber der Kneipe. Ebenfalls aus einer privaten Initiative entstand der Obdach e.V. Dörte Klages und Ursula von Dallwitz- Wegener gründeten den Verein vor 26 Jahren. Ihre Ziele gehen über die der Existenzsicherung hinaus. Obdachlosen wird drei Mal in der Woche ein Frühstück angeboten. Die beiden Frauen möchten Obdachlosen von der Straße holen und ihnen einen Einstieg in die Gesellschaft bieten. Zusammen mieten sie 37 Wohnungen in der Stadt, um Obdachlose unterzubringen. Mit vier festangestellten Sozialarbeitern und einigen Ehrenamtlichen betreuen sie knapp 100 Menschen, denen sie auch helfen, eine Arbeit zu finden.
Ein solcher ehemaliger Obdachloser ist Thomas. Er ist 43 Jahre alt und wird bei Obdach e.V. betreut. Geboren ist er in Ludwigshafen und lebt seit vier Jahren in Heidelberg. 2008 kam er für drei Jahre ins Gefängnis wegen Betrugs, zudem war er aufgrund seines Diabetes arbeitsunfähig. Dann hat sich Thomas nach seiner Entlassung an den SKM gewendet, um eine Meldeadresse zu erhalten. Dies ist oft ein erster Schritt, denn ohne Adresse kann keine Behörde helfen, kein Jobcenter Arbeit bieten. Der SKM bietet Obdachlosen diese Möglichkeit, einige sind sogar Hartz IV berechtigt. „Was ich Schlechtes getan habe, möchte ich wieder gut machen“, sagt Thomas. Deshalb arbeitet er ehrenamtlich in einem Mehrgenerationenhaus als Beikoch. Weihnachten wird er dort verbringen. Allerdings ist dies für ihn ein Fest der Lügen und Heuchelei: „Warum schenkt man nur an Weihnachten und nicht im restlichen Jahr?“, fragt er. Dennoch wird auch bei Obdach e.V. gefeiert: Am Nikolaustag gibt es für jeden ein Geschenk im Wert von fünf Euro und am 20. Dezember feiern sie gemeinsam Weihnachten. Das Fest finanziert ein größeres Hotel, das nicht genannt werden möchte. Darin gibt es Weihnachtsgeschenke für alle.
Finanziert wird Obdach e.V. durch Spenden, auch die Stadt Heidelberg unterstützt den Verein. Ende November haben Obdachlose auf dem Adventsmarkt selbstgemachte Dinge verkauft und sich die sozialen Einrichtungen vorgestellt.
Auch der Amerikaner Joe Lewis engagiert sich für Obachlose und bedürftige Menschen, er gründete den Verein HOPE. Dort ist auch Manfred gelandet. Joe war zuerst mit der amerikanischen Armee in Deutschland stationiert. Nach seinem Austritt aus der Truppe schlug er sich mit Gelegenheitsjobs in Frankfurt durch, verlor seine Lebensperspektive, nahm Drogen und verbachte acht Monate auf der Straße. Ein Pastor in Frankfurt versorgte ihn an jedem Sonntag, bis er beschloss, eine Therapie zu beginnen. Dann arbeitete er mehrere Jahre als Streetworker mit dem Pastor zusammen, bevor er nach Heidelberg kam. Seit 14 Jahren kümmert er sich, zunächst inoffiziell und seit 2006 offiziell, um Obdachlose. Von Gott fühlt er sich zu dieser Aufgabe berufen. „Ich habe keinen Beruf, sondern eine Berufung!“, sagt er. Joe betet mit Obdachlosen, bastelt und führt Gespräche, hilft Obdachlosen bei Behördengängen und bei der Jobsuche.
Jeden Mittwoch besucht er Betroffene in Krankenhäusern, um mit ihnen zu reden. Auch Manfred kommt Gott näher, weil ihm sonst etwas beim Leben auf der Straße fehle, wie er sagt. Zu Weihnachten lädt Joe zu einem Weihnachtsfest in der Bonifatiusgemeinde mit einem Gottesdienst, Chor und gemeinsamen Essen ein. Zweihundert Gäste wollen kommen. Ein Höhepunkt des Vereins HOPE war ein Gospelfest, welches 2009 in der Halle 02 veranstaltet wurde. Sechs Gemeinden waren beteiligt und 800 Gäste kamen. Eine „Rieseparty für Gott mit arm und reich“ schwärmt Joe. Für ihn gebe es nichts Schöneres als zu helfen, sagt er. Nicht immer hat man das in Heidelberg so gesehen: noch in den 1970er-Jahren wurden unter Bürgermeister Reinhold Zundel „Irre, Asoziale und Penner“ mit Polizeiautos aus der Stadt gefahren und ausgesetzt, wie sich der Pressesprecher der Polizei Heidelberg, Harald Kurzer dem ruprecht gegenüber (Ausgabe 139) erinnert hat. Heute noch sind die in der Universitätsbibliothek und Feldmensa lagernden Obdachlosen vielen Studenten unangenehm.
In Heidelberg gibt es genug Angebote für Obdachlose, sagt Thomas von Obdach e.V. Viele Obdachlose würden die Angebote jedoch nicht annehmen, da sie ihre Eigenständigkeit bewahren wollen, auch wenn dieser Freiheitsbegriff sehr eingeschränkte Möglichkeiten bietet. Daher sind die Notunterkünfte nur im Winter geöffnet, wenn das Schlafen draußen lebensgefährlich wird.
Auch an Weihnachten gibt es genügend Angebote, doch viele verabscheuen Weihnachten. So wie Thomas: „Ich finde Weihnachten schrecklich! Muss man Weihnachten wirklich feiern?“
Von Dominik Waibel