Die Bahnstadt entsteht auf den Flächen des ehemaligen Güterbahnhofes der Deutschen Bahn. Diese lagen brach, doch jetzt sollen dort Wohnungen für 12 000 Menschen entstehen, da es in Heidelberg eine große Nachfrage nach Wohnraum gibt. Daher sind die meisten Gebäude in der Bahnstadt auch Wohnhäuser. Seit 2010 werden Gebäude verkauft und seit 2012 wohnen Menschen in der Bahnstadt, momentan sind es rund 600. Zusätzlich sollen dort 7000 Arbeitsplätze entstehen.
Die Bahnstadt ist eine Modellstadt, nach der Fertigstellung soll sie die größte Passivhaus-Siedlung der Welt sein. Sie soll die Zukunft verkörpern und zu Heidelberg passen. „Das ist ein großes Problem der Moderne, alle Gebäude sehen gegebenenfalls gleich aus und passen daher überall und nirgendwo hin“, sagt Henry Keazor, Professor für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg.
Was passt zu Heidelberg? Heidelberg ist auf den ersten Blick alt und kitschig, kein gutes Vorbild für einen neuen Stadtteil. Auch roter Sandstein und Naturstein sind typisch Heidelberg. Heidelberg ist die romantische Stadt, doch unser Verständnis von Romantik ist mit alten, kitschigen Gebäuden verbunden, daher ist diese Idee in der Bahnstadt nicht umsetzbar. „Natürlich könnte man den Begriff der Romantik, welcher in der Romantik progressiv war, neu interpretieren“, sagt Keazor. Doch ob wir das als schön empfänden, bezweifelt er.
Typisch für deutsche Altstädte ist die Verbindung von Leben, Arbeit und Freizeit, was auch die Planer der Bahnstadt erreichen wollten. Auf den zweiten Blick macht die Universität die Stadt besonders, daher soll in der Bahnstadt ein Campus entstehen: Die SkyLabs wurden gebaut, die nun Labore und Büros beherbergen. Direkt nebenan wurde ein Studentenwohnheim mit Fußball- und Volleyballfeld auf dem Dach gebaut. Einige Straßen sind nach Nobelpreisträgern benannt, die, wenn auch nur entfernt, mit Heidelberg verbunden sind. Die Universität Heidelberg hat doch kein Interesse an den Laboren, sodass die private Schiller Universität stattdessen in die Bahnstadt gezogen ist und in den SkyLabs Räume gemietet hat. In der Bahnstadt um die Skylabs herum ist ein Campus geplant, ähnlich dem Campus im Neuenheimer Feld.
Das große Kulturangebot zeichnet Heidelberg aus – die Bahnstadt betont die Nähe zur Halle02. Auch das einzige Mainstream-Kino – ein „Luxor Filmpalast“ – wird in der Bahnstadt gebaut. Das Lux-Harmonie wird am 29. Januar geschlossen.
Wie plant man einen Stadtteil? Erstmal zwei sich kreuzende Straßen, die Kreuzung soll das Stadtzentrum sein. So machten es die Römer und eigentlich alle nach ihnen. Genau so geschah es auch in der Bahnstadt, dort sind die Straßen Langer Anger und die Max-Jareckie-Straße die Hauptstraßen. An der Kreuzung dieser Straßen, im Zentrum des Stadtteils, ist ein Kinderhort. Dies passt zu den Prioritäten in der Bahnstadt, denn vor allem Familien sollen hier leben und arbeiten. An den anderen Ecken der Kreuzung sind die Flächen noch nicht bebaut.
Die Straße Langer Anger ist mit einer Allee und Teichen gebaut worden, es sieht aus als versuchten die Architekten den Reflecting Pool in Washington, vom Lincoln Memorial aus betrachtet, zu imitieren. Das hat zur Folge, dass die Bahnstadt monumental wirkt, das bisher stärkste Argument der Kritiker. Niemand kann es ihnen absprechen. Die Architekten der Bahnstadt wissen um das Problem und pflanzten eine Allee, die an die Friedrich-Ebert-Anlage angelehnt ist. „Wenn die Bäume wachsen und die Individualisierung stärker wird, dann wird man das nicht mehr so wahrnehmen“, sagt Keazor. „Man hätte die Bahnstadt kleinteiliger, mit vielen kleineren Gebäuden planen können, doch dann hätten weniger Menschen hier wohnen können“, ergänzt er. „Der Stil der Bahnstadt sollte natürlich modern sein, auch noch in vielen Jahren gefallen, daher einen überzeitlichen Stil haben und trotzdem für seine Zeit stehen. Ein solcher überzeitlicher Stil wäre zum Beispiel der Neoklassizismus, den man jetzt aktuell oft sieht, doch dieser Stil ist meines Erachtens prekär und wird daher zu Recht viel kritisiert.“ Der Heidelberger Hauptbahnhof ist ein solches Gebäude. Die Bahnstadt findet Keazor gelungener. Sie ist ehrlicher in ihrem Stil, findet er, da sie auch zu ihrer Zeit steht und zeitgenössische Elemente aufgreift. Beispielsweise gibt es einige bunte Balkone in der Bahnstadt, damit distanzieren sich die Architekten von dem Stil der Postmoderne. Die Gebäude sehen aus der Distanz alle gleich aus. Doch die Architekten versuchten die Monotonie durch Formen und Farben aufzubrechen, um der Monumentalität und der Banalität zu entkommen. Nicht alle Häuser sind gleich hoch und auch die Materialien und Fenster unterscheiden sich deutlich. Für die Häuser wurde viel Naturstein und grüne Farbe verwendet, um der Bahnstadt einen Bezug zu Heidelberg zu geben, da auch in Heidelberg viel mit Naturstein gebaut wird. Inspiration fanden die Architekten bei Heinrich Hübsch, dem Karlsruher Architekten und Bauherren im 19. Jahrhunderts.
Elemente, die es in Heidelberg schon gibt, wurden aufgegriffen: Beispielsweise orientierten sich die Stadtplaner an den Gehwegbreiten in der Bergheimer Straße. Die Häuser sind flacher als beispielsweise im Emmertsgrund. Das wirkt weniger monumental und hilft der Bahnstadt zurückhaltender zu wirken. Das passt zu Heidelberg, wo sich die meisten Gebäude einfügen und nicht herausstechen. In der Bahnstadt fallen nur die Skylabs auf, die Gebäude der Universität und Forschung werden sollen. Die Wohnhäuser stehen, wie es in der modernen Architektur üblich ist, gedrängt. Das beschränkt die Privatsphäre, da Bewohner bei persönlichen Gesprächen auf dem Balkon die Nachbarn im Nacken haben. Auch das ist der hohen Wohnungsdichte geschuldet. Es sind Grünflächen in der Bahnstadt geplant – wie diese wirken, wird man in einigen Jahren sehen, wenn die Bahnstadt fertig ist.
Das ist jedoch nicht das Einzige, das die Lebensqualität in der Bahnstadt mindert. Noch gibt es kaum öffentlichen Verkehr, irgendwann soll eine Straßenbahn durch die Bahnstadt fahren. Im Moment gibt es nur eine Buslinie. „Man geht davon aus, dass die Menschen in der Bahnstadt ein Fahrrad oder Auto haben“, sagt Keazor. Es gibt schon eine Sparkasse, jedoch noch nichts, wo man sein Geld ausgeben könnte. Vor allem fehlt ein Lebensmittelgeschäft: Man muss für jedes Ei ins Auto steigen. „Sobald das Kino in die Bahnstadt kommt, werden sich auch Restaurants und Cafés ansiedeln“, glaubt Keazor, „dann wird es hier ein neues kulturelles Zentrum geben“. Es sollen größere Geschäfte entlang der Eppelheimer Straße und an der Czerny-Brücke entstehen. Man könnte den Architekten Mutlosigkeit vorwerfen, kein extravagantes Gebäude geschaffen zu haben, es gibt auch kein Wahrzeichen in der Bahnstadt: „Gute Architektur unterstützt sich gegenseitig. Wenn demgegenüber ein Gebäude heraussticht, dann wirken alle anderen Gebäude im Kontrast langweiliger, das möchte man vermeiden“, erklärt Keazor.
Genauso könnte man der Stadt vorwerfen, sich nicht an Mehrgenerationenhäusern oder an Freiburgs teilweise autofreiem Stadtteil Vauban orientiert zu haben. Im Vergleich dazu wirken die Ideen in der Bahnstadt um Jahre veraltet. In Vauban gibt es Carsharing, wenige Parkplätze im Stadtteil und viele Häuser produzieren mehr Energie als sie verbrauchen. Es gibt Mehrgenerationenhäuser und der Stadtteil ist sehr familienfreundlich. Und es sind viele günstige Wohnungen für Studenten geschaffen worden. Solche Visionen gab es auch für die Bahnstadt. Leider wurden sie nicht umgesetzt, wahrscheinlich weil Ideen durch zu viele Architekten, Stadtplaner, Gremien kaputt diskutiert wurden. Dennoch ist die Bahnstadt solide geplant und wird ihren Bewohnern in einigen Jahren, wenn die Baustellen verschwunden sind, ein schönes Heim sein.
Die Architektur ist nicht außergewöhnlich, dafür bodenständig. Zwar wirken viele Gebäude, als könnten sie überall auf der Erde stehen, trotzdem sieht man deutlich, wie die Architekten sich bemüht haben, um einen ausgeglichenen Stil zu finden. Mit der Bahnstadt geht Heidelberg einen großen Schritt in die Zukunft.
von Dominik Waibel