Mehr als 50 Jahre nach Martin Luther Kings berühmter Rede hat sich sein Traum von einer gerechten Gesellschaft ohne Rassismus nicht erfüllt
Wie eine gigantische Schlange bewegt sich die Menschenmasse durch Seattles Innenstadt. Radfahrende Polizisten weisen den Weg für die Teilnehmer des Martin Luther King Jr.-Gedächtnisumzuges. Die Marschierenden sind gut gelaunt, die Sonne scheint in der sonst so verregneten Stadt. Es sind Menschen jeder Hautfarbe und aus allen Gesellschaftsschichten zum Umzug gekommen, um an diesem Tag den Bürgerrechtler zu feiern, der dieses Jahr 85 Jahre alt geworden wäre. Es ist der 32. Umzug, der in Seattle stattfindet, und mit über 5000 Teilnehmern ein Erfolg. Im Westlake Park, einem Platz inmitten von teuren Kaufhäusern und Geschäften, sammeln sich die Massen um einigen Reden zu lauschen. Dieses Jahr dreht sich alles um den Mindestlohn von 15 Dollar, welchen die Befürworter in Seattle umsetzen wollen. Doch einer der Redner spricht direkt über Kings Traum. „Wir sollten uns fragen, ob wir seinen Traum heute leben, ob sich etwas getan hat. Denn die Ungleichheit ist nicht geschwunden. Ja, damals war es nötig, die gesetzliche Grundlage zu schaffen. Doch jetzt ist sein Traum ein Anliegen des Herzens. Martin Luther King hatte den Traum, dass wir uns eines Tages alle als Geschwister sehen können.“
Trotz all der ergreifenden Reden scheint ein Ereignis der Masse besonders gute Laune zu machen: Die Seattle Seahawks, das lokale Football-Team, erspielten sich am Vortag ihren Platz im Superbowl. Es ist keine Überraschung, dass an diesem Tag viele der Anwesenden in dunkelblau und leuchtendem grün gekleidet sind. Doch der Sieg des Teams und der Enthusiasmus der Fans ist durch ein Ereignis getrübt. Denn direkt nach dem Sieg gab Richard Sherman, Comeback der Seahawks, ein Interview auf dem Spielfeld, in dem er eine wutentbrannte Rede lieferte. „Rede bloß nie wieder über mich!“, rief der adrenalin-geladene Spieler zum Höhepunkt in die Kamera. Obwohl er für dieses bekannt ist, führte sein aufbrausendes Verhalten zu viel Kritik: Ein Teil dieser Kritik artete in rassistische Kommentare aus. Des Öfteren fiel das Wort „Thug“ (etwa Gangster, Schläger). „Der Grund, warum mich dieses Wort so stört, ist, dass es mir so vorkommt als wäre das ein neues akzeptables Wort anstelle des N-Wortes“, erklärte Sherman später in einer Pressekonferenz.
In der Tat scheint Amerika noch weit entfernt zu sein von Martin Luther Kings Traum. Zwar wurden jegliche Gesetze abgeschafft, die eine Rassentrennung vorschrieben, doch Armut und Kriminalität sind immer noch ein vorrangig dunkelhäutiges Problem. Habiba Ibrahim, die an der Universität Washington im Bereich African American Studies und Literatur unterrichtet, geht so weit zu sagen: „Unsere Auffassung von ‚Rassen‘ und Rassenunterschieden haben sich über so eine lange Zeit entwickelt und sich inzwischen fest in unserer Gesellschaft verankert, dass ein ‚Ende des Rassismus‘, wie King es sich vorgestellt hatte, kaum mehr möglich ist.“ Es ist kein offenes Ausgrenzen mehr, durch das sich Amerikas Konflikt deutlich macht. Es sind kleine Dinge, die unterbewusst passieren, weil sie in den Köpfen der Menschen verankert sind.
Alex, 22, studiert Anthropologie und Gesundheitswesen an der Universität Washington in Seattle. Als Sohn äthiopischer Einwanderer wuchs er in einem wohlhabenden Teil der Stadt auf und war somit eines der wenigen farbigen Kinder dort. „Es dauerte um einiges länger, bis ich zu Übernachtungsparties eingeladen wurde“, erinnert er sich. „Es gibt so viele versteckte Formen von Rassismus. Ich wurde zwar nie mit dem N-Wort beschimpft, aber es dauerte oft länger, bis sich andere Kinder mit mir anfreundeten. Oft waren die Eltern skeptisch, wenn ihre Kinder mit mir befreundet sein wollten.“ Dennoch wurde er sich seiner Hautfarbe und den gesellschaftlichen Problemen erst wirklich bewusst, als er einen Kurs zum Thema Psychologie des Rassismus belegte. „Das war eine augenöffnende Erfahrung für mich, erst hier begann ich, das Ausmaß der Situation zu begreifen. Der Kurs war auch der erste, in dem weiße Studenten in der Unterzahl waren.“
Eine Studie über den Durchschnitt der Erstsemester an der Universität Washington besagt, dass lediglich 2,8 Prozent der Erstsemester im Herbst 2012 afroamerikanischer Herkunft waren. Das heißt jedoch nicht, dass die Universität nicht vielfältig ist.Seattle liegt an der nördlichen Pazifik-Küste, weshalb historisch gesehen eine größere Zahl der Einwanderer aus Asien stammt. Dementsprechend ist die Zahl der asiatisch-stämmigen Studenten mit 29,4 Prozent höher. Dennoch gilt für das ganze Land: Jugendliche aus afroamerikanischen Haushalten sind weniger motiviert, die Universität zu besuchen. „Ich denke, man muss der dunkelhäutigen Jugend schon in der Schule gezielt alle Optionen offenlegen, und die Überlegung eines Studiums ernsthaft in Betracht ziehen“, so Ibrahim.
Es sind nicht nur solche Zahlen, die ein mulmiges Gefühl im Bauch hinterlassen. Als Jugendlicher war sich Alex oft der Risiken bewusst, auf einer Party Alkohol zu trinken. Seine hellhäutigen Freunde waren weniger vorsichtig. „Mein Verhalten hat sich da sehr stark angepasst. Ich war immer um einiges nervöser als meine (weißen) Freunde. Einfach weil ich den Druck gespürt habe, dass das großen Ärger geben könnte für mich. Aber auch heute, wenn ich nach Sonnenuntergang durch die Straßen spaziere, habe ich immer das Gefühl, besonders unschuldig aussehen zu müssen.“ Zwar ist Washington nicht Florida, doch auch hier erinnert man sich zu gut an den Fall Trayvon Martins.
Alles in allem scheint Amerikas neuer Rassismus ein versteckter zu sein. Während sich Seattle mit dem „vielfältigsten Postcode“ ganz Amerikas rühmt, wird leicht übersehen, dass dieser auch stellvertretend für eines der ärmsten Viertel der Stadt ist. Fest steht auch, dass im Durchschnitt einer von drei afroamerikanischen Männern früher oder später im Gefängnis landet. Die Zahl der dunkelhäutigen Insassen übersteigt die der hellhäutigen bei Weitem. „Wenn ich daran denke, wie es wäre, in einem ärmeren Viertel aufzuwachsen, mit nichts als Armut und Drogendealern um mich herum, und Schulen, die nicht genug Geld haben – dagegen war es bittersüß, in meinem Viertel aufzuwachsen. Bitter, weil ich das einzige schwarze unter vielen weißen Kindern war. Aber süß, weil die Schulen immer ziemlich gut waren“, erzählt Alex. „Seit neuestem gibt es an der Uni eine Pflichtveranstaltung für alle Bachelor-Studenten; jeder muss jetzt einen Kurs zu dem Thema „Multikulturalität“ belegen. Aber für mich hat das etwas von einer Doppelmoral, denn die Zahlen stimmen einfach nicht.“
Doch irgendwo muss man anfangen, das Bewusstsein der Menschen auf die Probleme des Landes zu lenken. Denn viele der Amerikaner sind „farbenblind“, sie wollen Unterschiede im Bezug auf Hautfarbe nicht anerkennen und versuchen Ungerechtigkeiten gegenüber Minderheiten herunter zu spielen. Der amerikanische Traum gelte schließlich für alle. Es bleibt nur zu hoffen, dass Martin Luther Kings Traum bald fester Teil des amerikanischen Traumes wird.
von Anna Wüst