Die 70er Jahre verändern Heidelberg wie kaum ein anderes Jahrzehnt. Doch sind sie im kollektiven Gedächtnis der Stadt kaum präsent. Eine Ausstellung versucht dies nun zu ändern
Zwei gepanzerte Sonderfahrzeuge der Polizei fahren die besetzte Hauptstraße entlang. Hinter aus Mülltonnen und Sperrmüll errichteten Blockaden verschanzen sich mehrere tausend Demonstranten. Sie werfen Steine, Flaschen und Eisenstangen. Die aus dem ganzen Land herbeigerufenen Polizisten reagieren mit Tränengasbomben und Schlagstockeinsatz. „Bürgerkriegsähnliche Zustände in der Innenstadt“ titelt die Rhein-Neckar-Zeitung am Morgen danach; Oberbürgermeister Zundel fordert alle Bürger auf, sich von dem „gebotenen Politrockertum“ fernzuhalten.
In der Nacht des 26. Juni 1975 erlebte Heidelberg eine der gewalttätigsten Demonstrationen in seiner Geschichte. In seltener Eintracht demonstrierten Studenten und langjährige Altstadtbewohner gemeinsam: Gegen die voranschreitende Altstadtsanierung, gegen den 1972 beschlossenen Radikalenerlass und gegen das alle vereinende Feindbild des Oberbürgermeisters.
Ab Donnerstag wirft die Ausstellung „Eine Stadt bricht auf: Heidelbergs wilde 70er“ im Kurpfälzischen Museum erstmals einen Blick auf diese bewegte Zeit. Das überschaubare Heidelberg war in den 70er Jahren neben Großstädten wie Berlin oder Frankfurt ein Zentrum der entstehenden Alternativkultur. Angeregt vom Wunderhorn-Verleger Manfred Metzner konzentriert sich die Ausstellung vor allem auf diesen Aspekt. Für Metzner waren die 70er Jahre „die kreativsten Jahre Heidelbergs“, in denen die Stadt aus der Enge des Neckartals ausbrach und sich in vielerlei Hinsicht veränderte. Metzner ist dabei selbst Zeuge dieser Zeit. Ein Großteil der Exponate stammt aus seinem Privatbesitz.
Der Bruch mit den „68ern“ setzte zu Beginn des neuen Jahrzehnts innerhalb der Heidelberger studentischen Linken ein. Im März 1970 hatte sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) auf Bundesebene selbst aufgelöst; im Juni erfolgte das Verbot des Heidelberger SDS. Die Konsequenz war die Spaltung der Studentenbewegung in eine undogmatische A- und eine dogmatische B-Fraktion. Die dogmatische Linke formierte sich fortan parteilich in sogenannten Kadergruppen wie dem Kommunistischen Bund Westdeutschland.
Die Mehrheit im Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) hatte aber die undogmatische Fraktion inne, in ihrer Selbstbezeichnung „Spontaneisten“ genannt. Als publizistisches Organ der Szene diente die deutschlandweit erste und 1973 in Heidelberg unter Mitwirkung von Manfred Metzner gegründete Sponti-Zeitung Carlo Sponti. Mittels kreativer Protest- und Ausdrucksformen traten die „Spontis“ für die Etablierung einer alternativen Alltagskultur ein, die in Opposition gegenüber den als repressiv empfundenen Ordnungsstrukturen stand: „Die 68er haben eine gewisse Vorarbeit geleistet, aber Vieles lief nicht in unserem Sinne, sie waren viel theoretischer drauf; wir lieferten dann die Praxis“, erklärt Manfred Metzner.
Angela Siebold, Historikerin und eine der Kuratoren der Ausstellung, unterstreicht das Abgrenzungsbedürfnis der Spontis: „Der Begriff der Autonomie spielte eine große Rolle; sie wollten aus sich selbst heraus etwas Neues gestalten und niemandem Vorschriften diktieren.“ Alternative Szenen seien aber auch in großen Studentenstädten wie Frankfurt und Berlin entstanden. „Das Besondere ist weniger was, sondern dass es auch im kleinen Heidelberg passiert ist.“ Da verwundert es etwas, dass die 70er Jahre in der Stadtgeschichte bis heute weitgehend unerforscht sind. So konnte die Ausstellung nur unter Beteiligung von Zeitzeugen realisiert werden. Sie standen Heidelberger Studenten der Geschichte und der Kunstgeschichte in Interviews Rede und Antwort. Ausschnitte der Gespräche können in der Ausstellung über ausleihbare iPads angehört werden. Geschichtsstudenten verfassten ebenfalls die Texte der Ausstellungszeitung.
Das Aufkeimen der Alternativbewegung beförderte gleichzeitig die Entstehung zahlreicher sozialer Bewegungen, deren Dreh- und Angelpunkt das „Collegium Academicum“ war. Das 1945 gegründete selbstverwaltete Studentenwohnheim im Gebäude der heutigen Universitätsverwaltung fungierte als politisches und kulturelles Studentenzentrum in der Altstadt. Kollegiaten und Besucher schätzten es als letzten kreativen Rückzugsort. Hier gründete sich die erste Frauen- und Männergruppe und auch die Schwulengruppe „Homo Heidelbergensis“ nahm hier ihren Anfang.
Jedoch waren die „wilden 70er“ in Heidelberg nicht nur ein buntes, produktives Treiben, wie es die Ausstellung suggeriert, sondern auch eine Zeit der Radikalisierung. Neben einer regen Kneipenkultur in der Altstadt existierte hier seit den 60er Jahren eine der größten Drogenszenen Deutschlands, deren Hauptumschlagplatz die Untere Straße war. Unter permanenter polizeilicher Beobachtung stehend, war sie Schauplatz von Razzien, die den Konsum von Haschisch, Heroin und LSD eindämmen sollten. Erhofft hatte man sich spirituelle Bewusstseinserweiterung und gesellschaftliche Befreiung, hemmungslos auf der Straße urinierende Junkies waren die Realität.
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FOTOSTRECKE Die 70er in Heidelberg
Als Sitz des Hauptquartiers der US-Streitkräfte in Europa war Heidelberg auch eine Zielscheibe des Linksterrorismus. Am 24. Mai 1972 verübte die RAF einen Bombenanschlag auf das Hauptquartier, bei dem drei Soldaten ums Leben kamen. Unabhängig davon hatte sich 1970 das „Sozialistische Patientenkollektiv“ (SPK) in Heidelberg gegründet, das Krankheiten als Resultat einer kapitalistischen Gesellschaft verstand. Das SPK wurde bereits 1971 wegen staatsfeindlicher Agitation aufgelöst. Einige seiner Mitglieder beteiligten sich in den Folgejahren an Anschlägen der zweiten RAF-Generation. Zwei Schattenseiten der 70er Jahre, die in der Ausstellung aber nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Weitaus deutlicher wird der Fokus auf einen großen Streitpunkt der Stadtpolitik gerichtet: die Altstadtsanierung. Hatte das Zentrum Heidelbergs den Zweiten Weltkrieg so gut wie unbeschadet überstanden, war die Bausubstanz der Gebäude nun marode und Toiletten gab es oftmals nur auf „halber Treppe“. Mit der Wahl Reinhold Zundels 1966 zum Stadtoberhaupt sollte sich dies ändern. Zundel, bei seinem Amtsantritt gerade mal Mitte 30, zeigte sich begeistert von den Plänen des Architekten und NASA-Mitarbeiters Hannes Lührsen. Dieser wollte die Altstadt von lärmenden Autos befreien und aus ihr die größte Fußgängerzone Deutschlands machen. Für alteingesessene Bewohner und Studenten entstand Platz im neuen Stadtviertel Emmertsgrund, das Anfang der 70er Jahre in grüner Randlage erbaut wurde. Ein Projekt, das jedoch scheiterte – die Baukosten stiegen in ungeahnte Höhe, die Mieten ebenso und so blieb am Emmertsgrund einzig seine Umgebung beschaulich.
Unter dem Motto „Hand aufs Herz – wir müssen bauen“ schritt in der Altstadt die beabsichtigte „Revitalisierung“ Heidelbergs voran. Alte Villen und Häuser mussten weichen und wurden durch Parkhäuser und Tiefgaragen ersetzt. Die diskutierten Projekte scheinen heute utopisch, doch entsprachen sie dem damals als „fortschrittlich“ empfundenen Zeitgeist: So sollte eine unterirdisch geführte Magnetschwebebahn, die „Transurban“, zwischen Karlstor und Bismarckplatz verkehren und eine Seilbahn Touristen vom Philosophenweg bis in die Altstadt transportieren. Sogar an eine Überbauung des Neckars wurde gedacht. Zwar konnte Zundel sich mit seiner Vision eines „Heidelberg 2000“ nicht in Gänze durchsetzen, dennoch wirkt die Bauwut noch heute nach.
Sinnbildlich für die architektonischen Sündenfälle dieser Zeit steht das 1972 erbaute Neue Kollegiengebäude im Marstallhof. Den größten Einschnitt erlebte die Hauptstraße: 1977 wurde ihr die Trinität aus Fußgängerweg, Autoverkehr und Straßenbahnschienen genommen. Nur noch Ersterer blieb erhalten und machte aus ihr eine x-beliebige Konsummeile. Zundel wurde so zum Hassobjekt von linken Studenten und Altstadtbewohnern. „Wir nannten ihn den neuen General Mélac“, feixt Metzner in Anlehnung an den französischen General, der 1693 Heidelberg niederbrannte, noch heute. Doch es gab auch Bewunderung für den „Macher“ Zundel, der „anpackte“ und auch unpopuläre Entscheidungen konsequent durchsetzte. Bei der Bürgermeisterwahl 1976 erhielt er knapp 80 Prozent – so viel wie kein Heidelberger Bürgermeister vor und nach ihm.
Zwar war der Protest gegen die Altstadtsanierung teilweise massiv, aber überwiegend erfolglos. Im Januar 1974 räumte die Polizei gewaltsam das Frauenzentrum in der Plöck, die Fahrpreise wurden im Juni 1975 um 25 Prozent erhöht und die Free Clinic, die kostenlose medizinische Versorgung anbot, musste 1977 aus der Brunnengasse ausziehen.
Bereits 1975 war auch die Schließung eines weiteren „Schandflecks“ beschlossene Sache: Das Collegium Academicum, als „Hort der Linksfaschisten“ verschrien, musste der Universitätsverwaltung weichen. Im Morgengrauen des 6. März 1978 räumten Hundertschaften der Polizei das von seinen Bewohnern seit mehreren Wochen besetzte Kollegienhaus. Das Projekt studentischer Selbstverwaltung war beendet. Manfred Metzner beschreibt eine „Phase der Depression“, die nach der Schließung des Wohnheims einsetzte. Angela Siebold sieht einen Grund hierfür im mangelnden Freiraum: „Eine der Besonderheiten Heidelbergs ist, dass die öffentliche Präsenz der alternativen Szene 1978 so abrupt endet. Das Collegium war der einzige Ort, wo man sich Räume nehmen konnte und machen konnte, was man wollte.“ Mit der Schließung des Collegium gab es diese Räume nicht mehr.
Was bleibt von den 70ern? „Wir haben durch die subversive, feingliedrige Gesellschaftsveränderung viel tiefgreifender die Stadt verändert“, behauptet Manfred Metzner. Ihre Spuren sind, wenn auch zaghaft, an einigen Orten, wie dem Weltladen, Buchläden, dem Wunderhorn-Verlag und vielen Kneipen noch heute sichtbar. Die Spontis von damals sitzen zudem für Grüne und GAL im Gemeinderat und in Bürgerinitiativen.
Große städtebauliche Veränderungen im Westen und Süden der Stadt, eine lang nicht gekannte studentische Mitbestimmung machen den Blick auf die Siebziger heute aktueller denn je. Doch eine Aufbruchstimmung? Nirgends.
von Manon Lorenz und Michael Graupner
[box type=“shadow“ ]„Eine Stadt bricht auf: Heidelbergs wilde 70er“, Kurpfälzisches Museum, bis zum 21. September. Die von Studenten erstellte Ausstellungszeitung kostet 70Cent.[/box]