Mit ihrer „Geschichte der Gartenkunst“ machte sie sich einen Namen, geriet jedoch schon bald in Vergessenheit. Nun ist die Heidelberger Gelehrte Marie Luise Gothein neu zu entdecken.
2014 ist ein Jubiläumsjahr. Doch nicht bloß der Ausbruch des ersten Weltkriegs jährt sich zum hundertsten Mal. Anfang 1914 erschien in Jena ein Buch, das zu einem Standardwerk der landschaftlich orientierten Kunstgeschichte werden sollte: die monumentale „Geschichte der Gartenkunst“. Über dessen Autorin Marie Luise Gothein, ihren Lebensweg und ihre vielfältigen Forschungsgebiete wusste man lange Zeit nicht viel. Der Universitätsbibliothek Heidelberg und ihrer aktuellen Ausstellung über Gothein (kuratiert von Maria Effinger und Karin Seeber) ist es zu verdanken, dass Leben und Werk der Heidelberger Privatgelehrten nun sowohl Wissenschaftlern als auch einer breiteren Öffentlichkeit wieder ins Gedächtnis gerufen werden.
Die Biographie Gotheins, der sich ein Teil der Ausstellung widmet, beleuchtet dabei nicht nur einen Einzelfall. Sie gibt auch Aufschluss über die Lebens- und Arbeitsbedingungen weiblicher Wissenschaftlerinnen ihrer Generation. 1863 in Ostpreußen geboren, besuchte Gothein zwar eine höhere Töchterschule, Abitur und Studium blieben ihr aber zeitlebens verwehrt. Umso wichtiger war ihre Ehe mit dem zehn Jahre älteren Kulturhistoriker Eberhard Gothein, der ihre Forschungen unterstütze und ihr Zugang zu seinem akademischen Netzwerk verschaffte. Später waren es dann vor allem ihre eigenen Kontakte zu Intellektuellen, die ihr die Vorteile einer institutionellen wissenschaftlichen Karriere ersetzten. Nach Stationen in Karlsruhe und Bonn kam das Ehepaar Gothein schließlich 1904 nach Heidelberg, wo Eberhard Gothein als Nachfolger Max Webers auf dessen Lehrstuhl für Nationalökonomie berufen wurde.
„Anerkennung – nein, an die denke ich nie und dass sie mir fehlt, hat mich noch niemals sehr beunruhigt, aber dies Arbeiten selbst ist etwas so Beglückendes.“
Brief an Eberhard Gothein, August 1909
Kritisch beäugt von Webers Frau Marianne („Frau Gothein tut sozusagen alles, was man sich denken kann: wissenschaftlich arbeiten, Musik, Radeln, Ski, Tennis, Tanz… Es ist märchenhaft“), wird Gothein wohl keinen einfachen Stand in den Heidelberger Gelehrtenkreisen gehabt haben. Das wohl auch gerade deshalb der Fall, weil es ihr scheinbar mühelos gelang, Hausfrau- und Mutterdasein mit einer regen Forschungstätigkeit zu verbinden.
Obwohl sich Gothein um vier Söhne zu kümmern hatte, unternahm sie von 1892 an regelmäßig Forschungsreisen ins In- und Ausland. Zunächst widmete sie sich dabei jedoch nicht der Erforschung der Gartenkunst, sondern der englischen Literaturwissenschaft. Die Ergebnisse ihrer Reisen nach England waren unter anderem Studien über die englischen Dichter William Wordsworth und John Keats, deren Gedichte sie auch ins Deutsche übertrug. Nach diesen Arbeiten zur romantischen Naturlyrik begann sie schließlich, sich eingehender mit der Schnittstelle von Literatur und Landschaft zu beschäftigen. Damit kann sie als insgeheime Vorläuferin des „Ecocriticism“ und der literarischen Topographie-Forschung gelten, die sich seit den 1990er Jahren zu ausgedehnten Forschungsfeldern innerhalb der englischsprachigen Literaturwissenschaft entwickelt haben.
Doch erst das Erscheinen der zweibändigen „Geschichte der Gartenkunst“ machte Gothein einem größerem Publikum bekannt. Das in zehnjähriger Forschungsarbeit entstandene und fast tausend Seiten umfassende Werk behandelt die Entwicklung des Gartenbaus von seinen Anfängen im alten Ägypten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Reich illustriert und mit ausführlichen Erläuterungen versehen, entwickelte es sich schnell zu einer grundlegenden und weit rezipierten Arbeit über die Geschichte der Gärten. Zwar konnte sich Gothein auf einige frühere Werke zum Thema Gartenkunstgeschichte berufen, doch vielfach betrat sie Neuland.
Der historische Umfang des Buchs, seine breit angelegten Darstellungen und besonders der Anspruch, „eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstande der Gartenkunst“ zu betreiben und anzuregen, machen Gotheins „Geschichte der Gartenkunst“ zu einem Meilenstein. Neu ist auch ihr Verständnis der Gartengeschichte als Baustein einer umfassenderen Kulturgeschichte, als „einem Stück Geschichte der Gesellschaft“, wie sie in ihrem Vorwort schreibt, wo „künstlerisches und gesellschaftliches Leben sich aufs innigste durchdringen“.
„Mein ganzes Wesen ist doch nur ein Streben nach Erkenntnis nach Vertiefen und jeder neue Standpunkt, den ich antreffe, soll mir immer nur dazu dienen, den Welträtseln näher zu kommen.“
Brief an Eberhard Gothein, März 1917
Was an Gotheins Wissenschaftlerleben fasziniert, sind ihre breit angelegten Forschungsinteressen. Hier steht sie stellvertretend für eine Zeit, in der die Grenzlinien zwischen wissenschaftlichen Disziplinen weniger strikt gesetzt waren als heute, als jemand wie Max Weber vom römischen Recht über die Nationalökonomie schließlich zur Soziologie kommen konnte. Bei einer privat forschenden und daher nicht institutionell gebundenen Wissenschaftlerin wie Gothein ist dies umso charakteristischer. Dass sie sich neben ihren häuslichen Aufgaben in so großem Umfang der Forschung widmete, lässt sich wohl nur durch ihren Tatendrang und Wissensdurst erklären, der sie bis ins Alter nicht verließ. Noch in den zwanziger Jahren begann sie, Sanskrit zu lernen und veröffentlichte ein Buch über „Indische Gärten“ (1926).
In einem Brief an ihren Mann schreibt sie über sich, ihr „ganzes Wesen“ sei „nur ein Streben nach Erkenntnis, nach Vertiefen.“ Die wissenschaftliche Betätigung mag ihr dabei als ein willkommener Ausweg aus dem engen häuslichen Rahmen wilhelminischer Bürgerlichkeit entgegengekommen sein. Anders als Marianne Weber wurde Gothein jedoch nie zu einer Vorkämpferin der Emanzipationsbewegung. Ihr Anspruch war, als Wissenschaftlerin wahrgenommen und respektiert zu werden.
Wer Leben und Werk Marie Luise Gotheins näher kennen lernen will, hat dazu in der Universitätsbibliothek noch bis zum 31. August Gelegenheit. Die gesamte „Geschichte der Gartenkunst“ sowie zahlreiche Exponate sind darüber hinaus in einer virtuellen Ausstellung auf der Internetseite der Bibliothek abrufbar.
von Tim Sommer