Heidelberg zieht jährlich hunderttausende Touristen aus aller Welt an. Wie lernen sie die Stadt am Neckar kennen?
Dichter, weißer Nebel erhebt sich aus dem Wald und umwabert das Schloss. Aus dem grauen Himmel prasselt der Regen seit Stunden nieder. Hastig eilen die Menschen vorüber. Einige Touristen aber harren tapfer unter ihren Regenschirmen aus, blicken bewundernd zu Heidelbergs berühmtestem Wahrzeichen empor. Selbst jetzt, im grauen Dunst der diesigen Luft, in diesem verregneten Juli, übt es eine unbestreitbare Faszination aus. Eine Faszination, die Heidelberg zum Inbegriff der Romantik werden ließ – und die sich für die Stadt als Goldgrube von unermesslichem Wert erweist. Jahr für Jahr pilgern tausende Touristen nach Heidelberg, 2013 waren es mehr als 600.000 Menschen. Sie suchen die altehrwürdige Aura jahrhundertealter Häuser und Gassen, den Charme der Studentenstadt, das historische Ambiente in idyllischer Lage. Wie nehmen sie Heidelberg wahr?
Der schnellste Weg, um möglichst viel über die Stadt zu erfahren, ist es, eine der zahlreichen Stadtführungen mitzumachen, die von mehreren Anbietern offeriert werden. Allein die städtische Tochtergesellschaft „Heidelberg Marketing GmbH“ bietet knapp ein Dutzend Altstadtführungen mit und ohne Schloss, dazu Themen-, Kostüm- und Sondervorführungen, Fahrrad- und Segway-Touren und ähnliches mehr. Der kürzeste Altstadtrundgang dauert eineinhalb Stunden – ideal für viele Touristen, die nur einen Tag in Heidelberg sind. Besonders für asiatische Touristen ist die Anreise weit und teuer, japanische Arbeitnehmer haben oft nur eine Woche Ferien am Stück. Für Heidelberg bleibt da oft nur ein Zwischenstop auf der Deutschland- oder Europareise.
In dieser Zeit wollen sie möglichst viel erfahren. Am Neckarmünzplatz oder am Schloss steigen sie aus ihren Reisebussen; über den Marktplatz geht es durch die Altstadt. Sie genießen den Ausblick vom Karlsplatz auf das Schloss, gehen durch die Hauptstraße, passieren die bekanntesten Sehenswürdigkeiten: Alte Brücke, Heiliggeist- und Jesuitenkirche, Karzer und Universitätsplatz mit Löwenbrunnen. Diesmal ist das Wetter gut, an jeder Ecke begegnet man neuen Gruppen, oft leicht zu erkennen an Bändern mit Plastikkarten oder den hochgereckten Schirmen und Schildern der Reiseführer. Zu den Sehenswürdigkeiten gibt es eine Fülle an Informationen und einen Einblick in die Geschichte Heidelbergs. Am Ende wissen die Touristen alles über das Schloss und die Kurfürsten, die Reformation und die Zerstörung der Stadt, über die Universität und die Heidelberger Romantik, wissen vermutlich sogar mehr als die meisten Einheimischen – und werden doch, so steht zu vermuten, das meiste wieder vergessen. Was bleibt, sind zahllose Fotos, von sich und anderen vor historischen Bauten. Besonders beliebt ist der Brückenaffe.
Der Hauptgrund für Heidelbergs Popularität dürfte wohl, neben der Lage, das historische Zentrum sein, das, anders als in den meisten anderen deutschen Städten dieser Größe, seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr zerstört wurde. Dichter wie Eichendorff, Brentano und Arnim haben im 19. Jahrhundert den Mythos des romantischen Heidelberg geschaffen, dessen Strahlkraft seither ungebrochen ist. In den USA machten vor allem Mark Twain und die Operette „Der Studentenprinz“ die Stadt am Neckar bekannt. Und für asiatische Besucher sind Bauten wie das Schloss einfach faszinierend fremdartig. „Für uns ist Heidelberg ziemlich exotisch“, erklärt Herr Chung, ein freundlicher, älterer Herr aus Korea. „Die alten Gebäude sehen ganz anders aus als alles, was es bei uns gibt, und vor allem dieses 700 Jahre alte Schloss hat mich begeistert.“
In den paar Stunden, die nach der Führung noch bleiben, erkunden die meisten auf eigene Faust die Stadt, meist in kleinen Gruppen. Vor allem die Hauptstraße und die angrenzenden Seitenstraßen werden frequentiert; Eine Gruppe junger Asiatinnen fällt im Germanistischen Seminar ein, und eine Abteilung amerikanischer Senioren entschließt sich entzückt zur Einkehr in eines der „beautiful brewhouses“. Die japanische Studentin Koo hat mit ihrer Freundin das Kurpfälzische Museum entdeckt und ist regelrecht begeistert. Die meisten aber landen früher oder später in einem der zahlreichen Souvenir-Läden der Altstadt, dem „Unicorn“ oder „Käthe Wohlfahrt“, das außerhalb der Weihnachtssaison vor allem vom Tourismus lebt. Asiaten schätzen dabei vor allem kleinere Souvenirs, Amerikaner Weihnachtspyramiden und Kuckucksuhren, sagt Felicitas Hoeptner von der Pressestelle. „Am beliebtesten sind Räuchermännchen; das sind „Trophäen“, die der Nachbar nicht hat.“
Inwieweit Touristen Heidelberg jenseits von Klischees kennenlernen, bleibt dabei fraglich. Zu Einheimischen haben sie während ihres kurzen Aufenthalts von höchstens einem Tag jedenfalls kaum Kontakt. Auch zu ein paar Stunden gemütlichen Bummelns und Entdeckens fehlt die Zeit, denn der Bus wartet bereits. Morgen, erklärt Herr Chung, ist er bereits in Düsseldorf.
von Michael Abschlag