Dass die Deutschen den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einmütiger Begeisterung begrüßt haben, ist eine weit verbreitete Legende. Die Forschung weiß: Die patriotische Euphorie war begleitet von Panik und Entsetzen. Auch in Heidelberg waren die Reaktionen gemischt, wenngleich der Chor der Intellektuellen vieles übertönte.
„Jeder fühlte sich über sich selbst hinauswachsen im Einswerden mit einem größeren Ganzen. Die Erschütterung der Seele durchbrach die Schranken unseres Einzelseins, und das einsame begrenzte bedürftige Ich flutete hinüber in den großen Strom der Gemeinsamkeit. In der Ahnung eines riesenhaften welthistorischen Geschehens, das für Jahrhunderte Schicksal bestimmend ist, fühlten wir uns, in nie erlebter Leibhaftigkeit zum ‚Volke‘ vereint, zum lebendigen Organismus, in dem alle Glieder durch dieselbe starke Liebe zum Vaterland und, in der Stunde der Not, durch dieselben menschlichen Schicksale und Aufgaben verbunden wurden. Und im Untergang unserer Ichheit und seines Sonderseins in dieser lebendigen Einheit empfinden wir uns selbst zurück als Wesen von höherer sittlicher Würde, einer Würde, die in der bedingungslosen Bereitschaft zum Einsatz des Selbst für das Ganze bestand.“
Diese Erinnerung Marianne Webers an den August 1914, so befremdlich sie sich heute liest, beschreibt treffend die Vorstellung vom Beginn des Ersten Weltkrieges, wie sie sich über viele Jahrzehnte im kollektiven Gedächtnis der Deutschen gehalten hat. Die zerklüftete wilhelminische Gesellschaft sei bei Kriegsbeginn zu einer nationalen Einheit verschmolzen, so das Narrativ; das „Augusterlebnis“ habe alle Klassen- und Milieugegensätze mit einem Mal versöhnt. Viele Intellektuelle empfanden – genau wie Marianne Weber, die Ehefrau des großen Heidelberger Soziologen – den Kriegsausbruch als überwältigende Einheitserfahrung.
In der Ahnung eines riesenhaften welthistorischen Geschehens, das für Jahrhunderte Schicksal bestimmend ist, fühlten wir uns, in nie erlebter Leibhaftigkeit zum ‚Volke‘ vereint, zum lebendigen Organismus, in dem alle Glieder durch dieselbe starke Liebe zum Vaterland und, in der Stunde der Not, durch dieselben menschlichen Schicksale und Aufgaben verbunden wurden.
Marianne Weber
Die Forschung hat dieses Bild erst in den letzten Jahrzehnten deutlich relativiert: Patriotische Begeisterung stellt demnach nur ein Element in einem ganzen Spektrum von Reaktionen dar, das überdies je nach Gesellschaftsschicht, Region, Geschlecht und Alter unterschiedlich ausgeprägt war. Die vermeintlich allgemeine Kriegsbegeisterung blieb tatsächlich auf bürgerlich-akademische Schichten begrenzt. In der Arbeiterschicht, bei der Landbevölkerung und in den Grenzregionen überwog dagegen Besorgnis.
Heidelberg freilich war zu diesem Zeitpunkt stark bildungsbürgerlich geprägt; die Nationalliberalen bildeten die politisch stärkste Kraft. Entsprechend war auch die Euphorie hier größer als anderswo: „Überall gehobene patriotische Stimmung und Begeisterung ohne gleichen“, hält die Heidelberger Zeitung (damals eines von vier täglich erscheinenden Blättern) am 31. Juli die Gemütslage in der Stadt fest, andere Beobachter sprachen von einem „nationalen Fest“.
Am Tag zuvor hatte eine Falschmeldung die Bevölkerung in Unruhe versetzt. Fälschlicherweise war der Befehl zur Mobilmachung verkündet worden, und trotz eines raschen Widerrufs wollte die Spannung nicht mehr weichen: Bis spät in die Nacht zogen nach Zeitungsberichten mehr als zweitausend Menschen durch die Hauptstraße zwischen Bismarckplatz und Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem heutigen Universitätsplatz, sangen patriotische Lieder und lauschten vaterländischen Reden. Als am 1. August Oberbürgermeister Ernst Walz vom Balkon des Rathauses den (diesmal echten) Mobilmachungsbefehl verlas, wirkte die Gewissheit über den Kriegszustand wie eine Erlösung.
So jedenfalls berichten es die historischen Quellen. Es sind dieselben Phänomene, die sich in diesen Tagen überall im Deutschen Reich finden. Am Heidelberger Beispiel lässt sich die Schwierigkeit, die vorherrschenden Empfindungen im August 1914 angemessen zu beurteilen, gut verdeutlichen: Muss man die Menschenmassen auf den Straßen als Ausdruck einer verbreiteten Kriegsbegeisterung deuten – oder sind sie einfach das Ergebnis erheblicher Nervosität? Lässt sich die aufgeregte Bewegung in der Altstadt nicht einfach durch die Tatsache erklären, dass Litfaßsäulen und Extrablätter die wichtigsten Informationsmedien der Zeit waren? Das spontane Liedersingen und die enorme Zahl an Kriegsfreiwilligen mögen die patriotische Begeisterung vieler Menschen belegen – Hamsterkäufe in den Lebensmittelgeschäften, um ihr Guthaben fürchtende Kunden vor den Sparkassen sowie die hysterische Angst vor Spionen bezeugen dagegen die ängstliche bis panische Seite der Reaktionen. In Heidelberg entstand vereinzelt gar die Furcht vor einer französischen Invasion.
„Überall gehobene patriotische Stimmung und Begeisterung ohne gleichen.“
Heidelberger Zeitung
Die Stimmung in der Bevölkerung muss man also zumindest differenzierter beschreiben: „Groß war die Begeisterung bei der Bekanntgabe der Mobilmachung“, behauptete zwar das Heidelberger Tageblatt. „Frauen weinten, Kinder, die das Rätsel dieser Stunde nicht zu lösen vermochten, schauten sorglos in das Gewühl“, ergänzten aber die Heidelberger Neuesten Nachrichten.
Wie die Bevölkerung auf den Krieg reagierte, hängt dabei nicht nur von den unterschiedlichen Phasen ab (so gab es nach dem Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien eine Welle der Solidarität für den Nachbarstaat, während kurz vor Kriegsausbruch gespannter Ernst das Stadtbild beherrschte), sondern auch von der sozialen Schicht: Während man sich im bürgerlichen Milieu den Krieg als „groß und wunderbar“ (Max Weber) ausmalte, veranstalteten die Sozialdemokraten noch am 30. Juli eine Friedenskundgebung. Erhoffte man sich in der theologischen Sinndeutung eine moralische Besserung der Menschen, beherrschte die Handschuhsheimer Bauern dagegen die Sorge, wie man ohne die vom Heer beschlagnahmten Pferde die bevorstehende Ernte einbringen solle.
Diese oft widersprüchliche Mischung der Gefühle findet sich teils sogar bei ein und derselben Person: Etwa der des Universitätsrektors Eberhard Gothein, der noch Ende Juli an seine Frau schreibt, wie „seltsam“ er die patriotische Begeisterung findet – und dennoch weihevolle Worte findet, als er am Abend des 2. August auf der von Stadt und Universität gemeinsam einberufenen „vaterländischen Versammlung“ spricht.
Diese Veranstaltung, auf der neben Gothein auch der Theologe Ernst Troeltsch in der überfüllten Stadthalle sprach, belegt auch für Heidelberg, wie die ideologische Verklärung des Ersten Weltkriegs unmittelbar nach seinem Beginn einsetzte. Für Troeltsch, der als einer der umtriebigsten Kriegspublizisten einer ohnehin sehr beredten Gelehrtenwelt gilt, waren die Ursachen des Krieges „slawische Herrschsucht“ und französische Revanchelust. Die Überzeugung, dass Deutschland einen gerechten Verteidigungskrieg führe, war für Troeltsch ebenso selbstverständlich wie die Chauvinismen von der „slawischen Tücke“ und der „barbarischen Wut“, mit denen er den Kriegsgegner Russland belegte.
Man darf sich über Intellektuelle wie Troeltsch, Gothein und die eingangs zitierte Marianne Weber nicht täuschen: Sie als rückwärtsgewandte Nationalisten aburteilen ist weder sachlich richtig (tatsächlich galten die Heidelberger Gelehrten als vergleichsweise liberal), noch beantwortet es die Frage, warum sie den Krieg deuteten, wie sie ihn deuteten und dabei zum Teil an ihrem eigenen Verstand vorbeiargumentierten. Wenn Troeltsch dem westlichen Liberalismus den deutschen Geist gegenüberstellt, wenn er einen Dualismus konstruiert zwischen pluralistischer Technokratie und organischer Kultur, und besonders, wenn er aus dem Rationalismus seiner Zeit eine Wiederkehr der Religion herbeisehnt – dann steckt dahinter mehr als die opportune Rechtfertigung der eigenen Sache. Es scheint, als ob die deutschen Intellektuellen im Weltkrieg eine Unterbrechung der fortschreitenden „Entzauberung“ der Welt (wie sie Max Weber später nennen sollte) erblickten. „So zerbrechen auch uns heute alle rationellen Berechnungen“, erklärt Troeltsch fast entzückt, und „überall wagt sich der Glaube hervor, der wohl überhaupt nicht so tot ist, wie es scheint“. Für viele Intellektuelle scheint sich im August 1914 die letzte Gelegenheit aufzutun, sich gegenüber dem Herandrängen einer als bedrohlich empfundenen Moderne zurück in die Vergangenheit zu flüchten.
„Frauen weinten, Kinder, die das Rätsel dieser Stunde nicht zu lösen vermochten, schauten sorglos in das Gewühl.“
Heidelberger Neuste Nachrichten
Auch ein Ernst Troeltsch wird allerdings gewusst haben, dass die Verlaufsrichtung der Zeit nur den Weg nach vorne zulässt, und so fand sich, wer noch Ende Juli das romantische Flackern der letzten Schlossbeleuchtung vor dem Krieg bestaunt und am 2. August den Rednern in der Stadthalle frenetisch applaudiert hatte, bald im Kanonendonner der Schützengräben wieder. „Von Heidelberg nach Paris“ hatte jemand auf einen der Truppenzüge geschrieben. Unter den Soldaten befand sich der Großteil der damals etwa zweieinhalbtausend Heidelberger Studenten. Mehr als ein Fünftel von ihnen sollten in den nächsten viereinhalb Kriegsjahren fallen: Bei einer Trauerfeier der Universität im Juli 1919 hatte die Ruperto Carola 497 Tote zu beklagen.
Den meisten ihrer akademischen Lehrer blieb der Fronteinsatz erspart. Sie setzten ihren ideologischen Einsatz vom Schreibtisch aus fort, veranstalteten unzählige Kriegsvorträge und „Vaterländische Volksabende“. Damit wurden sie Teil dessen, was man „geistige Mobilmachung“ nennt. Ihre Schriften und Reden haben dazu beigetragen, dass der Kriegsbeginn von 1914 zum „Augusterlebnis“ verklärt wurde. Tatsächlich aber erlebte auch die Heidelberger Bevölkerung – bei allem Jubel – den Kriegsbeginn vielschichtiger.
von Kai Gräf