Als kaum Dreißigjähriger durchwanderte der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau Cape Cod. Sein ungewöhnlicher Reisebericht erscheint nun zum ersten Mal auf Deutsch.
Anfang Oktober 1849. Ein junger Philosoph, Schriftsteller, Naturforscher und Lebenskünstler macht sich auf den Weg in den äußersten Osten des amerikanischen Bundesstaats Massachusetts, auf die Halbinsel Cape Cod. „Ich war froh, aus den Städten herausgekommen zu sein, wo ich mich für gewöhnlich unaussprechlich armselig fühle“, schreibt Henry David Thoreau, der mit herkömmlichen Berufsbezeichnungen nur schwer zu fassende Reisende, später in seinem Bericht. Erst 1865, drei Jahre nach seinem Tod erschienen, ist der Bericht mindestens genauso unkonventionell wie sein Autor. Unter dem Titel „Kap Cod“ ist Thoreaus Buch nun im österreichischen Residenz Verlag zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung erschienen.
Als bunte Mischung aus Reiseerzählung, Lokalgeschichte und reflexiver Essayistik bietet das Buch mehr als bloß Zivilisationskritik und romantische Naturseligkeit – Kernaussagen, auf die Thoreau, nicht immer ganz zu Unrecht, häufig reduziert wurde – spätestens seit seiner Entdeckung als Vorläufer der Ökobewegung und des gewaltfreien Widerstands. Zwar entkommt er an den Stränden des Kaps dem Gefühl der Armseligkeit; mit der ausführlichen Schilderung eines Schiffbruchs gleich zu Anfang des Buchs macht er aber auch deutlich, dass es an der rauen Atlantikküste ebenso wenig idyllisch zugeht wie in der modernen Großstadt.
Im Aufbau orientiert sich „Kap Cod“ hauptsächlich an der Chronologie von Thoreaus erster Reise, auf der er gemeinsam mit seinem Freund und späteren Biographen, dem Dichter Ellery Channing, das Kap vom Süden aus bis nach Provincetown im äußersten Norden bereiste. Doch schon allein durch das Einfügen von auf späteren Reisen gesammelten Materials wird der Lesefluss manchmal gehörig gestört. Bei der bloßen Schilderung von Naturerlebnissen lässt Thoreau es fast nie bewenden. Immer wieder unterbricht er seine Erzählung, fachsimpelt als Botaniker, Geologe und Naturhistoriker, zitiert Autoritäten auf allen Gebieten und treibt nicht selten seinen Spaß mit ihnen.
Ebenso unermüdlich wie er Dünen ersteigt, Leuchttürme vermisst und Muschelarten katalogisiert, macht sich Thoreau auf die Suche nach außergewöhnlichen Kapbewohnern.
Besonders der steinalte Austernhändler von Wellfleet hat es ihm angetan. „Es gab eine merkwürdige Mischung aus Vergangenem und Gegenwärtigem in seiner Rede“, bemerkt Thoreau zu dessen Erzählungen aus der Zeit des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs. Und so durchdringen sich für Thoreau auf Cape Cod Menschen und Orte gegenseitig. Die Reise auf die Halbinsel wird gleichsam auch zu einer Reise in die nationale Vergangenheit.
Gegen einen blinden Lokalpatriotismus verwehrt sich Thoreau jedoch entschieden. Die kulturelle Symbolkraft Cape Cods als erster Anlandungspunkt der puritanischen Pilgerväter etwa ist für Thoreau eher Anlass zum Spott. Auch die bei seinen Zeitgenossen übliche Begeisterung für die frühe englische Kolonialisierung Amerikas beäugt er kritisch. Mehr als hundert Jahre vor dem amerikanischen Historiker Hayden White gibt Thoreau seinen Lesern zu bedenken, „aus welchem Stoff Geschichte gemacht ist – dass sie größtenteils nur eine Erzählung ist, auf die sich die Nachwelt geeinigt hat.“
Dass „Kap Cod“ nun endlich auch in einer deutschen Übersetzung erscheint, ist eine willkommene Bereicherung des besonders in den letzten Jahren beträchtlich gewachsenen deutschen Thoreau-Kanons. Die Nuancen von Thoreaus wortwitzelnder Sprache herauszubringen gelingt dem Übersetzer Klaus Bonn darin mal mehr, mal weniger – im Großen und Ganzen ist die Übertragung jedoch eine durchaus solide Leistung. Ilija Trojanows einleitender Essay über das heutige Erscheinungsbild des Kaps ist eine gelungene Ergänzung zu Thoreaus Beschreibung, auch wenn darin besonders am Ende allzu simple Thoreauklischees bedient werden. Was man beim Lesen der Ausgabe jedoch schmerzlich vermisst, ist vor allem eine Karte des Kaps, um Stationen der Reise nachvollziehen zu können.
Doch vielleicht ist gerade das ganz in Thoreaus Sinn. Schließlich schreibt er von einer seiner Wanderungen, er habe das Kap von einer Anhöhe aus erblickt „wie es auf keiner Karte dargestellt werden kann, färbe man sie, wie man will.“ „Kein Bild oder Bericht kann wahrer sein“ als das eigene Erleben des Kaps, darüber ist sich Thoreau im Klaren. Gerade in der Erkenntnis dieser Unsagbarkeit unterscheidet sich Thoreaus Buch von gewöhnlichen Reisebeschreibungen. Ein ungewöhnliches Leseerlebnis ist es allemal.
von Tim Sommer
[box type=“shadow“ ]Henry David Thoreaus „Kap Cod“ ist im Residenz Verlag erschienen. Es hat 320 Seiten und kostet 24,90 Euro.[/box]