Die Rolle der Frau in China hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Doch manche Konventionen wirken bis heute nach.
Heirat ist der beste Beruf. So schrieb Simone de Beauvoir 1949 in ihrem Meisterwerk „Le Deuxieme Sexe“ mit kritischem Ton über eine generelle Ansicht von Frauen ihrer Generation. 1949 – das Entstehungsjahr der Volksrepublik China. 65 Jahre sind seither vergangen und in diesem modernen, entwickelten Land ist Heirat heutzutage immer noch das wichtigste Lebensziel der meisten Frauen.
Befragt man eine 27 bis 30-jährige chinesische Frau, die in einer modernen chinesischen Stadt lebt und sich selbst gut finanzieren kann, nach ihrem Entwurf für die nächsten ein oder zwei Jahre, wird sie sehr wahrscheinlich mit ernsthafter Miene mitteilen, dass ein guter Mann zum Heiraten unentbehrlich bleibt, egal welch bunte Vorstellungen für die Zukunft sie innerlich auch aufgebaut hat. Hinter jeder solchen Frau steht normalerweise eine Mutter, die mit scharfem und sehnlichem Blick bei der Suche nach einem passenden Mann hilft.
Frauen um die 30 Jahre haben oft Angst, dass sie immer weniger Chancen haben, einen guten Mann zu finden. Ihre Besorgnis rührt nicht nur von der Tatsache her, dass Männer immer jüngere Frauen mögen, sondern auch von ihrer sozialen Umgebung. Beeinflusst von sozialen Normen glauben sie, trotz beruflicher und finanzieller Errungenschaften ein unvollständiges Individuum zu sein. Denn eine Frau, die in ihrem ganzen Leben niemals verheiratet war, gilt leicht als ein absonderlicher und psychisch ungesunder Mensch. Manche kleinen oder mittelgroßen Firmen möchten eine über 30 Jahre alte Single-Frau nicht anstellen, weil sie Zweifel an ihrer psychischen Gesundheit haben. Ein spezielles Wort, das im Jahr 2007 offiziell ins chinesische Wörterbuch aufgenommen wurde, spiegelt die Verlegenheit in dieser Situation deutlich wider: Shengnv – die übrigbleibende, die verlassene Frau, die über 27 Jahre alt und trotzdem noch nicht verheiratet ist. Hinter diesem Wort ist ein Hauch der Diskriminierung schwer zu übersehen.
Wenn man ohne rosarote Brille einen Blick auf die Stellung der chinesischen Frauen wirft, wird man sofort eingestehen, dass große Fortschritte in der Emanzipation gemacht wurden. Mit dem Untergang der kaiserlichen Qing-Dynastie im Jahr 1911 und der Befreiung Chinas vom feudalistischen System waren Frauen zugleich von ihren gebundenen „Lotosfüßen“ befreit. Sie begannen von da an, ihre Lebensweise und Freiheit aus neuer Perspektive zu betrachten: Freiheit erschien ihnen vorher fremd und sogar ein wenig lästerlich. Es war, als hätten sie einen Lichtstrahl im Dunkeln entdeckt, mit Hilfe dessen sie ihren weiteren Weg suchen konnten. Besonders nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 wurde die Stellung der chinesischen Frau beträchtlich verbessert. Sie gingen aus ihren kleinen, verschlossenen Familien in die beruflichen Bereiche und leisteten aktive Beträge zu der Entwickelung der Gesellschaft. In Bezug auf Ehe und Liebe bekamen sie zumindest die Freiheit, sich selbst für einen Mann zu entscheiden. Zuvor hatten Männer und Eltern diese Freiheit fest in Händen gehalten. Die Eltern schätzten den sozialen und ökonomischen Status aller Kandidaten ab und arrangierten die Heirat für ihre Tochter, als müssten sie ihre Tochter zu einem guten Preis verkaufen. Dabei traf sich das Ehepaar vor der Hochzeit normalerweise nicht und wusste nicht einmal, wie der andere Partner aussah.
Heutzutage üben diese Sitten und Konventionen noch immer einen großen Einfluss aus. Besonders gut erzogene und intelligente Frauen in Städten richten ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf elitäre Partner, die wenigstens nicht sozial schwächer als sie selbst gestellt sein sollten. Vielleicht aufgrund der schnellen Entwicklung und Veränderung der sozialen Struktur fühlen sich viele Frauen unsicher in der labyrinthischen Lebensumgebung und möchten Greifbares festhalten: eine eigene Wohnung statt Mietwohnung, ein eigenes Auto statt öffentlicher Verkehrsmittel. Materieller Reichtum ist der wichtigste Standard bei der Auswahl eines Partners, nicht gemeinsame Interessen und ähnliche Werteinstellungen, die zum größten Teil die Qualität der Ehe bestimmen. Aber kaum ein junger Absolvent aus der Uni kann sich alles leisten. Heirat ohne eigenes festes Anlagevermögen wird im chinesischen Sprachraum „nackte Heirat” genannt. Nach einer Statistik, die von dem größten chinesischen Internetportal Sina erstellt wurde, stimmen 80 Prozent der Männer der nackten Heirat zu, während 77 Prozent der Frauen daran verzweifeln würden. „Ich möchte lieber schluchzend in einem BMW sitzen als mich lächelnd mit meinem geliebten Mann in einen Bus zu zwängen”, sagte eine Kandidatin 2010 in der populärsten Dating-Show Chinas „If you are the one“. Diese Aussage wurde zur Sensation. Trotz Vorwürfen aus unterschiedlichen sozialen Schichten spiegeln diese Aussagen die generellen Wertvorstellungen in der heutigen chinesischen Gesellschaft mehr oder weniger wieder. Solche hohen Ansprüche bei der Suche nach Partnern haben wiederum zur Vermehrung der sogenannten Shengnv beigetragen. Lieber alleine zu bleiben, als die Erwartungen herunterzuschrauben und gleichzeitig immer in Sorge, als Shengnv gesehen zu werden: ein Teufelskreis.
Zwar verändern sich Lebensweisen im Laufe der Geschichte, doch die Welt der Tradition, über Jahrhunderte konstruiert und rekonstruiert, ist beständiger als Trends und Gesetzestexte. Um die Klemme der modernen chinesischen Frau zu beseitigen, ist daher gesellschaftliche Toleranz erforderlich. Noch wichtiger jedoch ist die innerliche Befreiung von überkommenen Klischees und unproduktiven Konventionen. Es ist noch ein langer Weg, bis chinesische Frauen endlich sagen dürfen: „Ich bin der Meister meines Loses. Ich bin der Kapitän meiner Seele.“
von Xiaoyin Zhang