Affen schießen Selbstportraits, russische Verbraucherschützer warnen vor Lausbefall durch exzessive Selfiekultur. Selfies begegnen uns dieser Tage überall. Was ist davon zu halten?
Bei einer echten Freundschaft aber ist nichts erdichtet, nichts erheuchelt und alles beruht auf Wahrhaftigkeit und freiem Willen.“ (Cicero)
Was bedeutet es eigentlich, ein „Selfie“ zu machen? Welche Erwartungen sind damit verbunden? Beginnen wir mit einem Experiment: Wir befinden uns in New York (die Stadt der Städte). Das muss geteilt werden, oder? Also zücken wir das Handy, lächeln, schnapp, schnapp, Schnappschuss! Schnell geteilt in Facebook. Wir zeigen, dass wir cool und glücklich sind und uns an einem der hipsten Orte der Welt befinden (von dem allerdings meist nur wenig oder nichts auf dem Foto zu sehen ist). Wir wünschen uns Anerkennung, Bewunderung, vielleicht sogar ein wenig Neid? Jede 30 Minuten schauen wir nun nach, ob es schon Likes gibt. Gute Freunde antworten schnell (denn sie sind auch immerzu mit dem Handy beschäftigt). Nach kurzer Zeit schon 200 Likes. Das löst Freude aus. Andere teilen also unser Glücksgefühl. Was soll daran schlecht sein?
Neurobiologisch gesehen mag unser Belohnungssystem „feuern“. Im Scanner würde man wahrscheinlich eine erhöhte Aktivität in Hirnregionen wie dem ventralen Striatum und dem Nucleus Accumbens sehen. Gleichzeitig würden wir eine erhöhte Konzentration von Dopamin messen. Dieser Neurotransmitter versetzt uns in eine positiv getönte Stimmung, zugleich fühlen wir uns wach und stimuliert. Vielleicht steigt gar die Konzentration von Oxytocin an? Dieses Neuropeptid verstärkt unter anderem Sozialverhalten und das Gefühl der emotionalen Nähe und Verbundenheit. Glückwunsch, alles richtig gemacht, oder?
Hmm, andererseits, das erinnert mich irgendwie an Tierversuche: Belohnt man eine Ratte nach dem Drücken eines Hebels mit Verstärkern (etwa Zuckerlösung), drückt die Ratte den Hebel immer wieder, sogar bis zur totalen Erschöpfung.. Bleibt der Verstärker aus, wird die Ratte depressiv, antriebslos oder stirbt. Das Leben der Ratte dreht sich also ausschließlich um diesen kleinen Hebel, den sie drücken muss, um die Belohnung zu erhalten, drück, klick, Belohnung… Selfie. Merken Sie was?
Meine Ausführungen deuten das Problem an, das sich darin äußert, dass wir einerseits in einer Gesellschaft leben, in der Individualismus und Autonomie von größter Bedeutung sind, andererseits aber unsere grundlegenden Bedürfnisse nach sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung nicht einfach verschwinden oder sich abmildern, im Gegenteil! Als Forscher und Psychotherapeut erlebe ich immer wieder, wie sich das Fehlen von sozialen Kontakten oder Liebe auf Menschen auswirkt (nämlich meist negativ). Mit der zunehmenden Technisierung erfinden wir immer neue Möglichkeiten, uns auszudrücken und zu vernetzten. Das Grundbedürfnis nach Anerkennung befriedigen wir über die Anzahl von Likes, virtuellen Kontakten und SMS.
Nichtsdestotrotz erlebe ich häufig, dass diese „Netzwerksysteme“ versagen, wenn es hart auf hart kommt. Wie würden die Freunde wohl reagieren, wenn wir ihnen ein Selfie senden, das uns in einem düsterem Wohnzimmer zeigt, mit einem depressiven Gesichtsausdruck? Würden unsere „Freunde“ das liken? Wahrscheinlich nicht! Belohnt wird nur das, was aus der Perspektive der gesellschaftlich vorgegebenen Normen positiv und hip ist. Wenn wir Positives erleben, werden wir geliebt. Nur brauchen wir in diesen eher „glücklichen“ Momenten überhaupt diese Verstärker?
Selfies reflektieren die zunehmende Selbstbezogenheit und Oberflächlichkeit, die sich in unserer Gesellschaft zu manifestieren scheint! Das ist eine – zugegebenermaßen – nicht bewiesene These. Verstärkersysteme wie etwa Facebook sind ausgesprochen symmetrisch, man erhält nur Likes wenn man selbst viele Likes verteilt. Sich immer stärker abhängig zu machen von den Bewertungen anderer Menschen, birgt auch Gefahren. Sind wir noch in der Lage, Meinungen zu vertreten, die nicht geliked werden? Was passiert, wenn uns das Glück verlässt? Warum den Moment nicht einfach genießen, ihn achtsam aufnehmen und durch ein Lächeln mit anderen, realen Menschen vor Ort teilen?