Über 500 Flüchtlinge fanden vorübergehend Zuflucht in den Patton Barracks. Die Stadt plant dort eine dauerhafte Unterbringung.
Der Weg führt über die Montpellierbrücke und vorbei am beliebten Mandy’s Diner. Ab dort erstreckt sich das trostlose Industriegebiet zwischen Bahnstadt und Kirchheim. Genau hier, zwischen dreckigen, unscheinbaren Autowerkstätten und einer ranzigen Frittenbude, liegen die Patton Barracks. Aus der Ferne wirken sie baufällig und scheinen langsam zu verwildern. Dennoch müssen die Menschen, als sie hier vor knapp zwei Monaten ankamen, große Erleichterung und Hoffnung verspürt haben. „Das Gefühl, nach Deutschland zu kommen, war so schön, weil ich nicht wusste, ob ich es lebendig schaffen würde“, berichtet ein junger Mann aus Afghanistan. Diese Erfahrung teilen wohl viele der 500 Flüchtlinge, die Anfang September für kurze Zeit in Heidelberg aufgenommen wurden.
Grund für die Aufnahme war eine massive Überbelastung der Landeserstaufnahmestelle (LEA) für Flüchtlinge in Karlsruhe. „Wir hatten die Wahl: Entweder wir schließen die LEA, wie die meisten anderen Bundesländer, oder wir bemühen uns um Notunterkünfte“, berichtet Wolf-Dietrich Hammann, Ministerialdirektor des Integrationsministeriums Baden-Württemberg. Die Suche des Landes war erfolgreich, als sich die Stadt Heidelberg nach Verständigung mit den Eigentümern des Kasernenareals spontan bereit erklärte, in den Patton Barracks Notunterkünfte einzurichten. Es folgte ein wahrer Kraftakt. Binnen 48 Stunden schafften es professionelle Helfer vom Roten Kreuz, THW und der Feuerwehr mit Unterstützung zahlreicher Ehrenamtlicher, die verlassenen GI Kasernen bewohnbar zu machen. Sanitäre Anlagen, Feldbetten und mobile Zäune wurden buchstäblich aus dem Boden gestampft. Kistenweise schaffte man hektisch Schlafsäcke, Kleidung und Hygieneartikel heran. „Eine unglaubliche Leistung“, wie Sozialbürgermeister Joachim Gerner resümiert.
Am Freitagabend, den 12. September, war es soweit, dass die ersten Busse voller Flüchtlinge die eisernen Tore der Patton Barracks passieren konnten. Die Ankömmlinge stammten aus aktuellen Krisenherden in Syrien und Nordafrika, aber auch aus klassischen Auswanderungsgebieten wie dem Balkan und der Sahelzone. Die meisten befinden sich auf einer Odyssee, die mit der Ankunft in Heidelberg noch lange kein Ende gefunden hat. Nur ein bis drei Wochen betrug die Aufenthaltszeit in der Unterkunft, denn zur Aufnahme des Asylverfahrens müssen die Bewerber zurück nach Karlsruhe. „Wenn der Anruf aus Karlsruhe kam, mussten wir kurzfristig Transferlisten erstellen und die Menschen auf den Transport vorbereiten – oftmals bis zu 50 Flüchtlinge auf einmal“, erinnert sich Sonia Badis, provisorische Leiterin der Patton Barracks. Sie arbeitet im Auftrag des privaten Dienstleistungsunternehmens European Homecare, dem das Regierungspräsidium die Verwaltungszuständigkeit für die Notlager übertragen hat.
„Wenn der Anruf aus Karlsruhe kam, mussten wir kurzfristig Transferlisten erstellen und die Menschen auf den Transport vorbereiten – oftmals bis zu 50 Flüchtlinge auf einmal“
Nach dem Chaos der ersten Stunden fanden die neuen Bewohner und die zehn Mitarbeiter schnell zur Routine. „Es war eigentlich ganz ruhig – völlig anders, als man das erwarten würde“, schildert Badis. Vom gemeinsamen Essen bis hin zur Ausgabe von Kleidung und Hygieneartikeln mussten sich die aus dem gewohnten Kulturkreis gerissenen Menschen miteinander arrangieren. Kleine Arbeitsdienste, wie Putzen, Waschen oder Kehren können gegen ein Taschengeld von 1,05 Euro pro Stunde verrichtet werden. In einem ungewissen Zustand des Wartens nutzen viele die Zeit für Spaziergänge oder zum Einkaufen. Jüngere Bewohner zieht es auch mal in die Disko. „Alles kein Problem“, unterstreicht Sonia Badis, „wir sind schließlich kein Gefängnis.“ Doch diese harmonische Stimmung wurde getrübt: Viele Ankömmlinge waren von Krieg, Armut und dramatischen Fluchtgeschichten stark traumatisiert. Die Bewältigung dessen ist oftmals einen quälender und schmerzhafter Prozess. Für solche Fälle standen professionelle Seelsorger zur Seite. Ein besonders erdrückendes Schicksal ist Badis deutlich in Erinnerung geblieben: „Eine schwangere Afrikanerin kam hier an. Bei der Überfahrt sah sie ihren Mann im Mittelmeer ertrinken. Trotzdem erwartete sie ihn täglich und fragte immerzu nach ihm. Nach wenigen Tage verlor sie vor Sorge ihr Kind.“
Trotz solch aufwühlender Geschichten steht aber vor allem die Erstversorgung im Vordergrund. Darum kümmerten sich bald nicht mehr nur Badis und ihr Team. Mit Ankunft der Flüchtlinge entstand eine Welle der Solidarität. Den zunächst unbedarften Helferwillen versucht die Initiative „Heidelberg sagt Ja“ zu bündeln. Schon vor der akuten Notsituation, war sie bereits im Sommer angesichts des nicht abreißenden Flüchtlingsstroms gegründet worden. Denn häufig fehlt der professionelle Unterbau, um ehrenamtliche Bereitschaft effektiv einsetzen zu können. Michael Wustmann, Leiter der Initiative, erklärt: „Wir haben unseren Fokus der akuten Situation angepasst. Wir wollten zeigen an wen man sich wenden kann, wenn man helfen will.“ Bereits früh begann eine Kooperation mit dem Asylarbeitskreis, wenig später holte man auch Caritas, Diakonie und das Rote Kreuz ins Boot. Diese Vereine setzten sich schon lange für die Verbesserung der Flüchtlingssituation in Heidelberg ein; besonders in Form von Sprachunterricht, kultureller Einbindung, Verfahrensberatung und Spendenorganisation.
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FOTOSTRECKE Eindrücke von der Flüchtlingssituation (Bilder: Phillip Rothe)
Das gemeinsame Konzept geht auf: Nicht zuletzt durch prominente Erstunterzeichner wie Schriftsteller Rafik Schami oder Uwe Hollmichel, Direktor der Deutschen Bank in Heidelberg, erreicht die Initiative rasch Bekanntheit. Unzählige Heidelberger nutzen die Gelegenheit und hinterlassen auf der Homepage Willkommensgrüße, spenden Sachgüter, Geld und Zeit. Wustmann zeigt sich begeistert ob der Hilfsbereitschaft: „Dass es sich so entwickeln würde, habe ich mir allenfalls gewünscht, ich hätte es aber niemals erwartet.“ Ähnliches berichtet Badis in deren Büro sich Wochen später noch Kartons voll zurückgelassener Spenden stapelten: „Es ist unglaublich, wie viele Spenden wirerhalten haben und zudem tausende Anfragen von Ehrenamtlichen – ich konnte gar nicht alle einsetzen.“ Doch trotz öffentlicher Solidarität sind die alten Kasernenflächen schon fünf Wochen nach der Eröffnung nahezu ausgestorben. Allein Sonia Badis, drei ihrer Mitarbeiter und zwei Wachmänner harren noch aus. Um kurzfristige Engpässe im Notfall abfangen zu können, bleibt die Einrichtung noch bis Mitte November in Bereitschaft. Auf die Nachfrage hin, wieso die offenbar so erfolgreiche Unterbringung deutlich früher als geplant abgebrochen wurde, weist Joachim Fischer vom Regierungspräsidium darauf hin, dass es weder Heizungen, noch frosttaugliche Wasserleitungen gibt. „Die Kasernen sind von Beginn an nicht zur dauerhaften Unterbringung geeignet gewesen und mit Blick auf schnellstmögliche Schließung eingerichtet worden. Endgültig aufgeben wollen wir die Patton Barracks noch nicht, aber eine Überwinterung dort muss dringend vermieden werden.“ Michael Wustmann von „Heidelberg sagt Ja“ gibt zu bedenken: „Wenn man die Gebäude und Ressourcen hat, sollte man über eine weitere Nutzung nachdenken – das ist jedenfalls besser als Zelte.“ Denn auch in Karlsruhe und Bruchsal waren Notlager aufgeschlagen worden. Dort wurden die Flüchtlinge in Zelten und Sporthallen untergebracht.
Die Stadt scheint die Patton Barracks ebenfalls für geeignet zu halten. Bereits im November sollen dort erneut Asylbewerber untergebracht werden, allerdings in Form von langfristigen Unterbringungen, wie sie in Kirchheim und im Pfaffengrund bestehen. Zwei Kasernengebäude werden auf den Einzug von 200 Asylbewerbern vorbereitet. Dafür nimmt die Stadt 1,5 Millionen Euro in die Hand, um besonders die Heiz und Wassersituation zu verbessern. Außerdem wird das ehemalige Hotel Metropol in der Alten Eppelheimer Straße saniert und parallel privater, städtischer Wohnraum gesucht. „Wir möchten die Menschen möglichst gut in unserer Stadt integrieren und isolierte Standorte am Ortsrand oder Notunterkünfte in Containern oder Zelten vermeiden“, erklärt Sozialbürgermeister Gerner.
„Wir möchten die Menschen möglichst gut in unserer Stadt integrieren und isolierte Standorte am Ortsrand oder Notunterkünfte in Containern oder Zelten vermeiden“
Wie das angesichts des bestehenden Mangels an städtischem Wohnraum umgesetzt werden soll, bleibt unklar. Auch Wochen nach der Schließung ist das Interesse an der Thematik ungebrochen: Die Zahl der Hilfsangebote wächst weiter. Es herrscht reger Andrang auf flüchtlingspolitische Veranstaltungen. Die Hilfsbereitschaft besteht, doch deren Umsetzung gestaltet sich schwierig. Das Ehrenamt allein könne nicht alle Verantwortung tragen, so Gudrun Sidrassi-Harth, Vorstandsvorsitzende des Asylarbeitskreises. Sie sieht die Politik in der Pflicht, sich stärker für die Interessen der Flüchtlinge einzusetzen. Ein erster Schritt dazu erfolgte durch den Beschluss der Landesregierung, den Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylbewerber zu vereinfachen. Für viele knüpfen sich daran große Hoffnungen – auch für einen jungen Afghanen, der erst vor kurzem in Deutschland angekommen ist: „Ich möchte mein Studium hier fortsetzen und in Deutschland arbeiten. Mehr nicht.“
[divider][box type=“info“ ]Asylbewerbung in Deutschland
Jeder Flüchtling kann in Deutschland Asyl beantragen. Gewährt wird dieses, wenn im Herkunftsstaat eine Bedrohung für Leben oder Freiheit des Betroffenen herrscht, so Artikel 16 des Grundgesetzes und der Genfer Flüchtlingskonvention. Ausgenommen davon sind die sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, in denen keine politische Verfolgung vermutet wird. Diese Vermutung muss ein Asylbewerber durch Nachweis besonderer Umstände entkräften.
Für Unterkunft, Versorgung, Sicherheit und Betreuungen der Flüchtlinge sind die Bundesländer verantwortlich. Eingereiste werden auf die Landeserstaufnahmestellen (LEA) verwiesen, wo sie registriert und bis zur formgerechten Antragsstellung untergebracht werden. Die Aufnahme eines Antrags, womit das eigentliche Asylverfahren eröffnet wird, braucht bis zu sechs Wochen. Aus Mangel an Kapazitäten in der LEA entstanden kurzfristig Übergangslager, so auch die Patton Barracks.
Nach der Antragsstellung werden die Flüchtlinge mittels eines Bevölkerungsschlüssels auf die verschiedenen vorläufigenUnterbringungsstellen der Landkreise verteilt. Für die Dauer des Asylverfahrens, in der Regel bis zu zwei Jahren, sind dieKommunen für die Flüchtlinge verantwortlich. Zur Betreuung wird ihnen in Baden-Württemberg eine pro Kopf Pauschale von aktuell jährlich 12.270 Euro zur Verfügung gestellt. In dieser Zeit herrscht in Baden-Württemberg die gelockerte Residenzpflicht, wonach sich die Asylsuchenden im jeweiligen Bundesland frei bewegen dürfen. Arbeiten dürfen Flüchtlinge und Asylbewerber nur sehr eingeschränkt und erst nach Ablauf von neun Monaten. Durch den Asylkompromiss von September 2014 zwischen Bund und Ländern und neue Asylgesetze der Grün-Roten Landesregierung verändern sich in den nächsten Monaten einige Bestimmungen. So steht Flüchtlingen ab 2016 gesetzlich mehr dezentralisierter Wohnraum zu. Bei Flüchtlingskindern soll die Schulpflicht konsequenter durchgesetzt werden. Außerdem sollen Asylbewerber Anrecht auf deutsche Sprachkurse erhalten und schon nach drei Monaten in den Arbeitsmarkt integriert werden. [/box]
von Christina Deinsberger und Felix Hackenbruch