Neue Ausschreitungen der Studentenproteste in Hongkong werfen grundlegende Fragen auf: Welche Auswirkungen hat der Protest auf die Stadt und worin liegen seine Ursachen?
Dicht an dicht reihen sich die Wolkenkratzer aneinander, die leuchtenden Werbeschilder ragen weit hinaus und übereinander in die Straße. Dort suchen Menschen mit flinken Schritten ihren Weg, um sich in Stadtbusse und Straßenbahnen zu zwängen. Sie verschwinden in U-Bahn-Schächten, die sich plötzlich in einer Hauswand auftun. Oder sie biegen in eine Seitenstraße ab, in der an Marktständen über den Preis von frischem Fisch, Gemüse und Gewürze verhandelt wird. Hongkong ist ein Großstadt-Dschungel: Eine enge, dicht besiedelte Stadt, die nie Schlaf findet. Unmöglich, glaubte man da, sei es den Menschen, in dieser Enge jegliches Ausschreiten zuzulassen. Das rücksichtsvolle Zusammenleben in der chinesischen Sonderverwaltungszone galt als unausgesprochenes grundlegendes Gebot für ihren Bestand.
Doch seit die Studenten der „Chinesischen Universität von Hongkong“ im August zum Protest aufriefen, ist vieles anders. Nun müssen Protestplakate auffordern: „Keep calm, stay together!“ Die engen Straßen sind zum Schauplatz der unbequemen Debatte über mehr Demokratie geworden. Auf der einen Seite stehen tausende Studenten, auf der anderen ein Verwaltungschef, eine 70-köpfige gesetzgebende Verwaltung sowie im Hintergrund die chinesische Regierung in Peking. Auch Proteste gegen den Studenten-Protest wachsen: Daran beteiligt sind Geschäftsleute und Taxifahrer. Außerdem wird der Konflikt durch den Einfluss der chinesischen Mafia verschärft.
Hunderttausende Studenten forderten bei ihren Protestmärschen, die Pläne für ein neues Wahlrecht zurückzunehmen. Dieses sieht zwar vor, dass der Verwaltungschef Hongkongs ab 2017 direkt gewählt werden soll, aber alle drei Kandidaten von der chinesischen Regierung vorgeschlagen werden sollen. Hier befürchten die Studenten eine Beschränkung demokratischer Rechte, anstatt der versprochenen Wahrung demokratischer Rechte und Freiheiten. Doch erklärt dies nicht, weshalb die Studenten ausgerechnet in diesem Sommer anfingen, ihren Unmut in Protesten, Streiks und Demonstrationen zu formulieren.
Die Ursachen für die „Regenschirm-Revolution“ sind in der Geschichte Hongkongs und seinem sozialen wie auch medialen Wandel zu finden. Nie konnte eine Protestbewegung in Hongkong per Internet solch eine weltweite Unterstützung finden. Schneller denn je können Informationen über soziale Netzwerke verbreitet werden. Die Proteste in Hongkong können nun auch effizienter organisiert werden. Es wird viel getwittert und fotografiert, über dem Protestlager ließ man sogar eine Kamera-Drohne steigen.
Seit die englische Kronkolonie 1997 an China zurückgegeben wurde, galt das Motto „Ein Land – zwei Systeme“. Die Stadt wurde unter der Souveränität Chinas mit einem hohen Maß an Autonomie ausgestattet. Die Protestierenden fürchten nun, dass die Gesetzesänderung eine Annäherung des Hongkonger Rechts an das Festland mit sich bringt. Durch das Vorschlagsrecht der Kandidaten für das Amt des Verwaltungschefs hätte die chinesische Regierung eine bedeutende politische Einflussmöglichkeit erlangt.
Hinzu kommt, dass viele Hongkonger Studenten sich durch die gesetzgebende Versammlung bereits heute nicht angemessen repräsentiert fühlen. Darin werden 30 Sitze durch „funktionale Wahlkreise“ besetzt, in denen unternehmerische und gesellschaftliche Interessen repräsentiert werden sollen. Kritiker meinen, dass die Anzahl der Vertreter aber in keinem Verhältnis zu den wirklichen gesellschaftlichen Interessen stünden.
Auch in der Gesellschaft sind die Spannungen für den Protest angelegt. Hongkongs Bildungssystem, die stabile Wirtschaft und gute Aufstiegschancen in der florierenden Metropole waren einst Aushängeschilder, die viele Chinesen aus dem Festland anlockten. Doch inzwischen zweifeln viele Hongkonger Studenten selbst am Traum des „Treppenaufstiegs zu höheren Posten“. Teure Mietpreise, die monopolistische Stellung von fünf Großfirmen und niedrige Löhne sind nur drei Gründe dafür. Der Hongkonger Wilson Lou sagt: „Das Leben hat sich verändert. An den Universitäten studieren immer mehr Chinesen vom Festland, es wird öfter Mandarin statt Kantonesisch gesprochen und in den Straßen eröffnen mehr und mehr Läden, die explizit zu vergünstigten Preisen an Festlandchinesen verkaufen“. Dass sich die Studenten gegen diesen Wandel wehren wollen, können hingegen viele Hongkonger der älteren Generation nicht verstehen. Sie sind noch von dem Hongkonger Glauben an den „Erfolg durch Leistung“ geprägt.
Welche Bedeutung könnten die Studentenproteste andererseits für die chinesischen Studenten auf dem Festland haben? Die dort lebende Studentin Ting Su hält den Protest für „unvernünftig“. Jiayi Yin glaubt, dass viele Studenten ihren Protest wohl nicht gut genug durchdacht hätten und er darum „an der eigenen Leidenschaft scheitern“ könnte. Andere fragen: „Was machen die da wieder?“ Während in Hongkong die Studenten ihren Unterrichtsboykott fortsetzen und als Zeichen ihrer Solidarität eine gelbe Schleife tragen glaubt Wilson: „Der Protest ist ein kleiner Funke, der in China nicht viel bewirkt.“
Auch wenn die Regierung im Oktober zu einer Verhandlung mit den Studentenvertretern bereit war, führten diese zu keinen Ergebnissen. Auch die Tatsache, dass es keinen Anführer der Proteste gibt, scheint die Organisation einer anhaltenden Demonstration zu erschweren. „Niemand will, dass alle Ziele durch Eskalation und ein Einschreiten der chinesischen Regierung völlig verhindert werden“, erklärt Wilson. Schließlich ist China der wichtigste wirtschaftliche Handelspartner von Hongkong. Auch die Angst vor einem ähnlich blutigen Szenario wie dem Eingreifen der chinesischen Armee am Tiananmen-Platz in Peking 1989 schwingt mit. Der Protest sei von Anfang an „eine Intellektuellen-Bewegung“ gewesen, und ihre Forderungen, „die zuerst von zwei Professoren und Pfarrern aufgestellt wurden, haben nie eine Protestbewegung mit diesem Ausmaß bezweckt“. Doch die anhaltenden Unruhen bis zu den gegenwärtigen Protesten im Stadtteil Mong Kok zeigen, dass sich die Forderungen so schnell nicht mehr aus dem Gedächtnis der Metropole löschen lassen.
von Johanna Mitzschke
Die Heidelberger Studenten Lukas Steinbrenner und Tobias Abschlag sind seit August in Hongkong. Sie berichten von ihrer Wahrnehmung der Proteste.
Welche Bedeutung haben die Studentenproteste unter Hongkonger Studenten jetzt?
Der Anteil derer, die aktiv für das allgemeine Wahlrecht demonstrieren ist inzwischen sicherlich gesunken, allerdings ist die Unterstützung nach wie vor da: Fast jeder Student trägt eine gelbe Schleife als Zeichen des Protests, überall hängen Schilder, der Unterrichtsboykott einiger Studenten läuft weiterhin und in den Vorlesungen wird das Thema immer wieder angesprochen.
Scheinen die Proteste aus eurer Sicht „erfolgreich“ zu sein? Worin könnte der Erfolg liegen?
Es hat bisher keine Änderungen in dem vom Volkskongress festgelegten Wahlsystem gegeben. In dieser Hinsicht sind die Proteste also sicherlich nicht erfolgreich bisher. Allerdings haben sie natürlich jede Menge Aufmerksamkeit, sowohl in China, als auch in der gesamten Welt erzeugt und einen Großteil der Hongkonger Bevölkerung mobilisiert.
Halten eure Hongkonger Kommilitonen die Proteste für „erfolgreich“?
Manche sehen schon die Tatsache, dass sich so viele Menschen in Hongkong für das allgemeine Wahlrecht einsetzen als Erfolg. Aber die meisten sehen vor allem, dass sich auf politischer Ebene bisher kaum etwas getan hat und die Proteste dauern ja schließlich noch an. Ob die Proteste erfolgreich sein werden, wird man dann wahrscheinlich sowieso erst bei der Wahl 2017 sehen.
Wart oder seid ihr bei den Protesten dabei?
Wir haben uns die Proteste zwar angeschaut, aktiv teilgenommen haben wir allerdings aus mehreren Gründen nicht. Da ist zum einen das Problem der Kommunikation mit vielen Chinesen, zum anderen die Ungewissheit über die Reaktion der Polizei oder auch einfach Informationslücken. Wenn man in Deutschland demonstrieren geht, hat man das Thema meistens seit langer Zeit verfolgt und kennt Institutionen sowie wichtige Personen, das ist hier alles nicht gegeben.
Wie habt ihr die Proteste erlebt?
Wir haben die Proteste vor allem in der Uni mitbekommen. Während des Unterrichtboykotts waren die Klassen so gut wie leer. Mit den verbliebenen Studenten wurde viel mehr über die Proteste diskutiert, als Unterricht gemacht. Die Uni selbst hat in täglichen E-Mails immer wieder Informationen verbreitet und der Campus war voller Banner und Transparente. Dazu hat man natürlich über Bekannte unter den Einheimischen, die selbst bei den Demonstrationen waren, jede Menge mitbekommen.
Worin liegt eurer Ansicht nach die Gefahr der Proteste?
Wenn man über Proteste in China redet, schwingt seit 1989 immer wieder das Wort ‚Tian’anmen‚ mit. Gerade nachdem es Ende Oktober zu Zusammenstößen mit der Polizei gab, bei denen auch Tränengas verwendet wurde, war die Angst vor einer Intervention der chinesischen Armee präsent. Viele sind zudem der Ansicht, dass die Proteste Hongkong wirtschaftlich nachhaltig schädigen könnten, schließlich ist der Handel mit China eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Stadt.
Über welche Medien werden Informationen über die Proteste verbreitet?
Bilder der Proteste sind in Hongkong omnipräsent. Zeitungen und Fernsehnachrichten berichten täglich darüber und sind außerdem oft öffentlich zugänglich, zum Beispiel in der Metro. Das wichtigste Medium ist jedoch das Internet. Es wird nicht nur benutzt um im Nachhinein Informationen zu verbreiten, die Demonstranten nutzen es auch um sich gegenseitig über Bewegungen der Polizei oder ähnliches zu informieren.
Welche Entwicklung der Proteste hast du verfolgt?
Als im September die Uni begann, hatte gerade der Volkskongress in Peking das Wahlsystem für 2017 in Hongkong bekannt gegeben. Damals war das Ganze jedoch kaum ein Thema, zumindest nicht so offensichtlich. Ende September gab es dann die einwöchigen Studentenproteste und als diese in Zusammenstößen mit der Polizei endeten, gingen diese Proteste in die „Occupy Central“ Bewegung über (die aber unabhängig von den Studenten ist). Zu dem Zeitpunkt war das Thema natürlich omnipräsent, mit regelmäßigen Updates in allen denkbaren Medien. Seitdem hat sich die größte Aufregung zwar – wie schon angesprochen – etwas gelegt, die Proteste bleiben aber nach wie vor das wichtigste Thema in Hongkong.
Fragen von Johanna Mitzschke