Literaturpreise sind heute allgegenwärtig. Doch welche kulturelle Dynamiken stecken hinter ihrer Vergabe? Ein Gespräch mit dem Heidelberger Amerikanisten Günter Leypoldt.
Mit der Vergabe des Literaturnobelpreises, des Booker Prize und des Prix Goncourt ist der Herbst traditionell die Jahreszeit der Literaturpreise. Wann entstand das Phänomen der Kulturpreisvergabe? Hat sich das Preissystem in historischer Perspektive verändert?
Günter Leypoldt: Die Praxis des „Sängerwettstreits“ lässt sich mindestens bis ins antike Griechenland zurückverfolgen – in den attischen Festivals wurden schon im sechsten Jahrhundert v. Chr. Wettkämpfe zwischen Tragödiendichtern veranstaltet. Ein wichtiger historischer Meilenstein in der Entwicklung von Literaturpreisen liegt sicher in den Gründungen von nationalen Akademien in der frühen Neuzeit – etwa die 1635 gegründete Académie française, deren Mitgliedschaft noch immer als höchste Auszeichnung von Intellektuellen gilt. Wesentlich für die heutige Konjunktur von Preisverleihungen scheint mir jedoch die Dynamisierung des kommerziellen Buchmarktes vor allem seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu sein. In der unübersichtlichen Welt einer modernen Kulturindustrie sind Literaturpreise – angeführt von dem 1901 etablierten Nobelpreis für Literatur – ein wichtiges Instrument literarischer Wertung geworden.
In Diskussionen um Literaturpreise taucht häufig ein Antagonismus zwischen Finanziellem und Kulturellem auf. Dem deutschen Buchpreis – der hauptsächlich von der Deutschen Bank Stiftung finanziert wird – wird zum Beispiel häufig vorgeworfen, nach „außerliterarischen Mechanismen“ (Daniel Kehlmann) zu funktionieren und ein bloßer „Marketingpreis“ zu sein. Wieso schadet es einem Kulturpreis, mit Wirtschaft(lichkeit) in Verbindung gebracht zu werden?
Niemand weiß genau, was strikt „literarische Mechanismen“ sein sollen. Das Misstrauen gegenüber wirtschaftlichen Motiven in der Literatur hat sicher mehrere Gründe: Einer der wichtigsten dürfte wohl darin liegen, dass wir Dingen, die billig zu haben sind, keinen großen Wert zuschreiben. Durch hemmungslose Vermarktung kann man auch einen anspruchsvollen Text banalisieren. Dagegen wirken Museumsobjekte gerade deshalb so auratisch, weil sie dem Warenkreislauf entzogen sind (zumindest für Normalbürger, die sich keinen Picasso leisten können). Zudem ist unsere Vorstellung legitimer Autorschaft heute von Konzepten literarischer Autonomie bestimmt, die sich seit der Romantik etabliert haben. Man verlangt von Schriftstellern, dass sie beim Verfassen ihrer Texte einer marktunabhängigen Logik folgen.
Pierre Bourdieu hat das Arbeitsprinzip des „literarischen Felds“ einmal mit dem eines Spiels verglichen, in dem der Verlierer gewinnt – in dem verkaufsschwache Autoren also häufig am oberen Ende des Prestigespektrums angesiedelt sind. Trifft das auch auf Literaturpreise zu? Hat man, überspitzt gesagt, als Autor umso höhere Chancen auf einen Preis, je weniger Leser man erreicht?
Stimmt. Genauer gesagt erhöht man die Chancen auf einen Preis nicht, indem man möglichst wenig Leser erreicht, sondern indem man die wenigen Leser erreicht, die das literarische Establishment dominieren und deshalb eine größere kulturelle Autorität besitzen als das zahlenmäßig überlegene Mainstreampublikum. Das ist auch der Grund dafür, dass Literaturpreise nicht an Autoren wie Dan Brown („Da Vinci Code“), George R. R. Martin („Das Lied von Eis und Feuer“) oder E. L. James („Fifty Shades of Grey“) gehen, sondern oft an Schriftsteller, die zum Zeitpunkt der Preisverleihung so gut wie keine Öffentlichkeitsresonanz besitzen. Durch die Spezialisierung des literarischen Feldes seit dem späten neunzehnten Jahrhundert gibt es keine Bestsellerautoren mehr, die gleichzeitig auch den Geschmack der literarischen Eliten treffen. Der letzte Schriftsteller, der dies meines Erachtens geschafft hat, war Émile Zola (vor ihm noch Charles Dickens und Sir Walter Scott).
Literaturpreise führen häufig zu einer doppelten „Kapitalvermehrung“, bei der Autoren sowohl Prestige als auch Leser gewinnen. Schaffen Preise ein Publikum für Autoren und Bücher, die vorher nur von einer Berufsleserschaft rezipiert wurden?
Literarisches Prestige hat die Eigenart, sich mit der Zeit in bares Geld umzuwandeln. Ein Nobelpreisträger wird automatisch zur Kulturikone. Dadurch steigen auch die Verkaufszahlen. Ich glaube schon, dass die Sichtbarkeit von Preisen auch dazu führen kann, dass anspruchsvollere „author’s authors“ wie Toni Morrison oder John Coetzee auch von einem breiteren Publikum entdeckt werden. Aber auch für weniger prominente Autoren, die kaum Bücher verkaufen, ist das Preissystem wichtig. Viele experimentelle Autoren können mit eingeworbenen Preisen, Stiftungen und Stipendien zumindest einen Teil ihres Lebensunterhalts bestreiten, was ihnen erlaubt, sich auf experimentelles, schwer vermarktbares Schreiben zu konzentrieren.
Der amerikanische Literaturwissenschaftler James English beschreibt in seinem Buch „The Economy of Prestige: Prizes, Awards, and the Circulation of Cultural Value“ die Vergabe von Kulturpreisen als Prozesse von „Kapitalinterkonversion“ – eine Art kultureller „Geldwäsche“, bei der Personen oder Institutionen ihr ökonomisches in kulturelles Kapital und Autoren den Prestigegewinn durch einen Preis in Verkaufserfolge umwandeln können. Ist das Literaturpreissystem also bloß eine profane Tauschbörse für Marktwerte – und Ehrfurcht vor der Institution „Literaturpreis“ heillos naiv?
Das Bedürfnis, profane Reichtümer in kulturell autorisierte oder „konsekrierte“ Werte zu verwandeln, ist so alt wie der Gabentausch in vormodernen Gesellschaften. Ein weiteres Beispiel sind Museen, Bildungseinrichtungen oder Kunstsammlungen, die aus Stiftungen schwerreicher Industrieller resultieren, die sich dadurch auf eine Art unsterblich machen. Trotzdem scheint mir der zynische Blick auf diese Phänomene wenig hilfreich. Ein Preisgewinn beruht auf der Anerkennung einer Jury, und wenn deren Mitglieder ein hohes Maß an kultureller Autorität besitzen – was ja bedeutet, dass der Preis eine gewisse Autonomie erreicht und er also nicht verschachert oder gekauft werden kann – ist eine gewisse Ehrfurcht schon gerechtfertigt, glaube ich.
Preisjurys fungieren häufig als eine Art Stiftung Warentest für kulturelle Produkte. Oft prangt ein entsprechendes Gütesiegel schon kurz nach Bekanntgabe von wichtigen Preisen auf den Buchdeckeln der eilig nachgedruckten Auflagen. Brauchen Leser solche Qualitätsindikatoren?
Ich glaube schon. Es ist unmöglich, sich in dem heutigen Überangebot – selbst nur in den als literarisch eingestuften Printmedien – zurechtzufinden ohne fremde Hilfe bei der Vorauswahl. Man kann einfach nicht alles selber lesen, um zu entscheiden, ob es sich lohnt. Literarische „Gütesiegel“ sind eigentlich nichts anderes als legitimierte Formen der Komplexitätsreduktion. Und die verschiedenen Lesergruppen haben ein Gespür dafür, welchen Formen des „Branding“ sie vertrauen. Für mich sind Preise wichtige (wenn auch nicht die einzigen) Indikatoren dafür, dass es sich lohnt, einen zweiten Blick auf einen Text zu werfen. Mit Hilary Mantel habe ich mich zum Beispiel erst beschäftigt, als sie zweimal innerhalb kurzer Zeit den Booker Prize bekam, für „Wolf Hall“ und „Bring Up the Bodies“ – wunderbar geschriebene Texte, die ich ohne die Preispublicity kaum beachtet hätte.
Das Longlist-Shortlist-System, das bei vielen Preisen praktiziert wird, suggeriert eine genau abstufbare Rangfolge von Autoren und Büchern. Für Preisjurys ergibt sich daraus häufig ein Legitimationsproblem. Wie objektiv lässt sich literarische Qualität messen?
Sie lässt sich nicht im Geringsten messen oder quantifizieren. Qualität ist meines Erachtens eine kollektive Wahrnehmung, die geschichtlich mehr variiert als man gemeinhin annimmt. Nichtsdestoweniger scheint es zu jeder Zeit einen relativ stabilen Konsens darüber zu geben, was einen guten literarischen Text ausmacht. Wenn man genauer hinschaut, beruht dieser Konsens allerdings auf einem hierarchischen Gefüge konkurrierender Urteile, das nur in der Momentaufnahme stabil wirkt. Die Tatsache, dass literarische Qualität nicht transhistorisch nachweisbar ist, ändert aber nichts an der Nützlichkeit von literarischen Preisen.
Das Gespräch führte Tim Sommer