Der Literaturnobelpreis 2014 geht an den Franzosen Patrick Modiano.
Die Entscheidungen des Nobelpreiskomitees kommen in vielen Fällen, nun ja, unerwartet. Als echter Kenner der Literaturszene kann sich beweisen, wer zumindest den Namen des Preisträgers schon einmal gehört, oder gar etwas von ihm oder ihr gelesen hat. Nun also Modiano. Obwohl er seit Ende der 60er Jahre schreibt, rund 30 schmale Büchlein, ist er bisher vor allem in Frankreich bekannt. Von Peter Handke schon in den 80er Jahren entdeckt und im Hanser Verlag übersetzt, ist Modiano aber auch schon geraume Zeit auf Deutsch zugänglich.
Modiano ist ein scheuer Autor. Interviews gibt er selten, in denen, die man sich auf youtube anschauen kann, läuft er verhuscht vor seiner riesigen Bücherwand hin und her, als wolle er gleich darin verschwinden. Leise und unauffällig scheinen auf den ersten Blick auch seine Romane. Kaum einer hat mehr als 150 Seiten. Selbst wer gerade sehr beschäftigt ist, schafft das an einem Sonntagnachmittag. Am besten draußen, nach einem Spaziergang, denn das ist es, was Modianos Figuren auch ständig tun: Spazieren gehen, schlendern, durch das Paris der 30er, 40er und 60er Jahre. Alle Romane Modianos spielen dort. Elisabeth Edl, eine der Übersetzerinnen Modianos, schreibt, sie lese keines seiner Bücher ohne einen alten, zerfledderten Pariser Stadtplan neben sich. Modiano beherrsche, so das Nobelpreiskomitee, die „Kunst des Erinnerns“, er rufe die Zeit der Besatzung von Paris und somit persönliche, menschliche Schicksale wieder wach. Das klingt ein bisschen nach Aufarbeitungsliteratur und nicht so furchtbar ansprechend. Damit täte man Modiano jedoch Unrecht. Seine Geschichten sind nicht nur ein Mittel gegen das Vergessen, sie handeln auch oft davon. Vom Verschwinden. Der Flucht aus dem eigenen Leben. Von der verlorenen Jugend, als die Tage noch leicht waren.
Seine Charaktere, oftmals Einzelgänger, die sich verlieren in der Einsamkeit der Großstadt, haben etwas Geheimnisvolles an sich. Der Protagonist des Romans „Aus tiefstem Vergessen“ trägt ständig eine Liste mit Hauseingängen bei sich, um sich auf seinen Spaziergängen mit Bekanntschaften jederzeit unbemerkt davonstehlen zu können. Die Mutter von Thérèse, der Hauptfigur aus „Die Kleine Bijou“, die diese in der Metro wiederzuerkennen glaubt, wurde früher „La Boche“, die Deutsche, genannt, ohne dass jemals klar wird, warum. Es entsteht ein Sog, eine Spannung, man wünscht sich, mehr zu erfahren, doch der Text macht nur Andeutungen.
Modianos Stil ist schlicht und eingängig. Er schreibt in Bildern, Symbolen, die immer wiederkehren, aber nie viel preisgeben. Der gelbe Mantel der Mutter, als „Fixpunkt“ in den Massen der Metro. Die grüne Leuchtschrift, vom Lokal gegenüber, die im Dunkeln der Nacht Trost spendet. Sein Paris wirkt altmodisch, aus der Zeit gefallen. Das passt zu seinen Geschichten, in denen man Adresszettel austauscht, die man verliert und sich vielleicht für immer verpasst. In denen Personen einfach verschwinden können. Unauffindbar. Bis der Zufall sie einem vielleicht wieder zuspült.
Wer sich an einem kühlen Herbstnachmittag davonträumen will, der lese Modiano. Denn die Entscheidung des Nobelpreiskomitees mag überraschend sein, unpassend ist sie nicht.
von Anna Vollmer