Der große Heidelberger Soziologe M. Rainer Lepsius ist am 2. Oktober dieses Jahres gestorben. Ein Nachruf.
Die Soziologie ist ein Fach, das mitunter wegen seiner worthülsenreichen Sprache verspottet wird. Es gibt sogar Kritiker, welche den teils umständlichen Jargon der Soziologen als einen Versuch betrachten, über Inkompetenz und Unwissenheit hinwegzutäuschen. Dass die soziologische Perspektive aber gesellschaftliche Probleme wohldefinieren und klare Instrumente für deren Lösung an die Hand geben kann, hat kaum einer besser gezeigt, als Mario Rainer Lepsius. Dieser große Soziologe, der am 2. Oktober in Weinheim verstorben ist, beherrschte sein Handwerk meisterlich.
1928 in Rio de Janeiro in eine großbürgerliche Familie aus Intellektuellen und Künstlern hineingeboren, wuchs M. Rainer Lepsius ab seinem achten Lebensjahr in München auf und gehört damit zu der Generation von bedeutenden Soziologen, die den Zweiten Weltkrieg noch bewusst miterlebten, was seine Interessen und Arbeiten zeitlebens prägte. So studierte er Jura, VWL und Geschichte und wendete sich später der Soziologie zu, deren Etablierung als universitäre Fachrichtung mit berufsqualifizierender Ausrichtung er vorantrieb. Er demonstrierte auf beeindruckende Weise die Erklärungskraft der Soziologie gerade dort, wo andere Disziplinen versagen.
Nach seiner Habilitation wechselte er von München nach Mannheim und dann im Jahre 1981 an die Universität Heidelberg, wo er bis zu seiner Emeritierung 1993 als Ordinarius für Soziologie wirkte.
Lepsius orientierte sich früh an Max Weber, dessen Leben ebenfalls stark an Heidelberg geknüpft ist. Die intensive Beschäftigung mit dem wichtigsten Soziologen aller Zeiten führte in Zusammenarbeit mit fünf weiteren Wissenschaftlern zur historisch-kritischen Max-Weber-Gesamtausgabe. Weber wurde nicht alt, hinterließ aber ein extraordinäres, wenn auch fragmentarisches und unvollendetes Werk. Dieses wollte Lepsius aufarbeiten und -bereiten und so wurde das Lebenswerk Webers gleichfalls zum seinen. Doch konnte auch er es nicht restlos zu Ende bringen. Seine tiefschürfende Auseinandersetzung mit Webers Werk und Privatleben machte ihn nicht nur zu einem seiner wichtigsten Deuter, sondern auch zum wohl besten Kenner dessen Person. „Er hätte das Wissen gehabt, eine großartige Biografie zu schreiben“, weiß Wolfgang Schluchter, emeritierter Professor für Soziologie in Heidelberg, der Mitherausgeber der Gesamtausgabe ist und Lepsius über 50 Jahre kannte.
Lepsius’ eigene Untersuchungen basieren auf Webers Ideen und dessen soziologischem Institutionalismus. Er war überzeugt, dass Demokratisierung für die deutsche Gesellschaft von besonderer Wichtigkeit sei. Unter dem generationstypischen Stichwort „angewandte Aufklärung“ untersuchte er, wie Institutionen Interessen strukturieren und Ideen, wie zum Beispiel den Rechtsstaat, konkretisieren können. Lepsius war einer von wenigen deutschen Soziologen, die sich eingehend mit der jüngeren deutschen Vergangenheit auseinandersetzten. Dabei hatte er ein enormes sozialgeschichtliches Wissen und konnte damit selbst seine eigene Familiengeschichte soziologisch analysieren. Die Wiedervereinigung war für Lepsius auch persönlich von großer Bedeutung, weil seine Familie in Ostdeutschland verwurzelt war. So setzte er sich nach der Wende dafür ein, dass das ostdeutsche Wissenschaftssystem in das der Bundesrepublik integriert und die Fächer Soziologie und Politische Theorie an allen dortigen Universitäten etabliert wurden.
In Erinnerung bleiben werden seine mit Humor und Scharfsinn versehenen, rhetorisch glänzenden Reden; seine durchblickeröffnenden Aufsätze sowie seine Werke zur politischen Soziologie Deutschlands und zu Grundbegriffen der Gesellschaftsanalyse werden für viele Studierende unumgänglich sein. Lepsius war ein unabhängiger Denker und dabei, so bringt es Wolfgang Schluchter auf den Punkt, „außerordentlich scharfsinnig in der Diagnose gesellschaftlicher Verhältnisse, mit einem Blick für die Prozesse, sehr skeptisch gegenüber Ideologien.“ Für das Max-Weber-Institut, dem M. Rainer Lepsius bis zuletzt eng verbunden war, ist dessen Tod ein schmerzlicher Verlust. Aber sein geistiges Erbe wird erhalten bleiben.
von Antonia Felber