Noch immer steht die Ukraine-Krise im Mittelpunkt der internationalen Politik. Der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski spricht über Lösungen, Fehler des Westens und Putins Politik.
[toggle state=“open“ ]Jörg Baberowski
Der Historiker Jörg Baberowski, geboren 1961 in Radolfzell, gilt als einer der führenden Osteuropaexperten. Nach seinem Studium in Göttingen promovierte er 1993 an der Goethe- Universität in Frankfurt zum Thema „Autokratie und Justiz im Zarenreich“. Seine wissenschaftliche Karriere führte ihn über Tübingen und Leipzig an die Humboldt Universität nach Berlin. Dort ist er seit 2002 Lehrstuhlinhaber für die Geschichte Osteuropas. Seine Arbeit führte ihn mehrfach in Archive in Finnland, Aserbaidschan und Russland. 2012 wurde sein Werk „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ mit dem Leipziger Buchpreis für das beste Sachbuch ausgezeichnet. [/toggle]
Herr Baberowski, in einem Beitrag in der Zeit haben Sie behauptet, der Westen begreife die Geschichte der Ukraine nicht. Was genau begreifen wir nicht?
Jörg Baberowski: Was nicht begriffen wird, ist die Tatsache, dass die Ukraine kein Nationalstaat in dem Sinne ist, wie man ihn sich in Westeuropa vorstellt. Die Vorstellung ist: Das war eine Nation, die in der Sowjetunion in einen Völkerkerker gesteckt wurde und 1991 wieder erwachte. Das ist das Narrativ aller Nationalisten in der ehemaligen Sowjetunion. Aber die Ukraine ist ein Produkt sowjetischer Nationalitätenpolitik. Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, wurde sie das nicht, weil eine große Nationalbewegung das wollte, sondern weil die Kommunisten das verabredet hatten. Danach musste eine nicht existente Nation mit Sinn und Inhalt gefüllt werden. Die Menschen haben auf ganz unterschiedliche Weise gesehen, was die Ukraine sein soll. Und diese Differenzierung versteht einfach niemand.
Was hätte uns denn diese Differenzierung im Hinblick auf die tagesaktuelle Politik genutzt?
Schon als das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine geschlossen wurde, hätte klar sein müssen, dass das in Moskau nicht gern gesehen wird. Nun können Politiker sagen: „Mir ist egal, wie Moskau darüber denkt.“ Das halte ich aber für ziemlich unklug, weil Moskau ein wichtiges Machtzentrum ist, das man nicht ignorieren kann.
Es war doch klar, dass Russland nicht akzeptieren würde, dass die Ukraine Teil der NATO oder EU und die Krim samt der Schwarzmeer-Flotte zur Disposition gestellt wird. Es war völlig dumm, so vorzugehen. Am Ende hat man sich alle Möglichkeiten verspielt: Putin sitzt am längeren Hebel, weil er bereit ist, Krieg zu führen. In Europa will das keiner.
Outen Sie sich damit als „Putin-Versteher“, wie Leute mit solchen Positionen gerne genannt werden?
„Putin-Versteher“ ist ein abschätziges Wort für Leute, die anti-westlich oder anti-amerikanisch sind. Das bin ich nicht. Ich will auch gar nicht das autoritäre Regime in Russland rechtfertigen. Aber – da wir hier am Ort von Gadamer sind – muss man, wenn man in einen Dialog treten will, erst einmal anerkennen, dass der andere vielleicht auch Recht haben könnte. Und dann muss man sich überlegen, aus welcher Perspektive der andere seine Auffassungen gewonnen hat. Insofern bin ich einer, der versucht zu verstehen, wie diese Leute in Moskau funktionieren.
Es ist ja keineswegs so, dass Putin und seine Leute im luftleeren Raum Konflikte inszenieren. Er spricht vielmehr das Bedürfnis von Millionen von Menschen an, die das alte Vielvölkerreich vermissen. Was ich will, ist, dass Politiker verstehen, warum manche Menschen Dinge anders tun als wir. Und wenn man verstanden hat, dass ein Vielvölkerreich etwas anderes ist als ein liberaler Rechtsstaat und ein Nationalstaat, dann ist schon viel gewonnen.
Mit dem Überfall auf die Krim hat Russland das Völkerrecht klar gebrochen. Dafür kann man doch kein Verständnis haben!
Doch, kann man. Natürlich können die westlichen Regierungen sagen, da ist Völkerrecht gebrochen worden. Die Amerikaner hat das überhaupt nicht interessiert, als sie Bomben auf Belgrad warfen und in den Irak einmarschiert sind – ein klarer Bruch des Völkerrechts. Und darauf beruft sich nun Moskau. Das rechtfertigt nichts, nur der Punkt ist: Irgendwann werden sich die europäischen Regierungen mit Putin an einen Tisch setzen müssen. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Die Krim wird bei Russland bleiben, und die Bewohner der Krim wollen auch gar nichts anderes. Man muss doch einfach mal zur Kenntnis nehmen, wenn Leute in einem Staat nicht mehr Leben wollen und sie keine Möglichkeit haben, sich durch Volksabstimmungen abzutrennen.
Für wie hilfreich halten Sie angesichts dessen die Äußerungen deutscher Politiker, die Putin mit Hitler – wie Herr Schäuble – oder Stalin – wie Herr Gabriel – vergleichen?
Ich glaube, eigentlich wissen die nicht, was sie da machen. Das sind Provinzpolitiker. Sigmar Gabriel hat sein Leben in Goslar verbracht, der hat überhaupt kein Verständnis für irgendwas, was jenseits der deutschen Grenzen geschieht. Vor zehn Jahren wäre undenkbar gewesen, dass deutsche Politiker sich so geschichtsvergessen äußern, nach den Exzessen, die die Nazis auf dem Boden der Sowjetunion vollbracht haben. Und jetzt – man hat das Gefühl, es weiß gar keiner mehr, in was für ein Benzinfass er da eine Lunte hält.
Putin ist zwar Herrscher eines autoritären Regimes, das demokratische Rechte nicht achtet. Aber das ist weit entfernt von totalitären Diktaturen, die Gesellschaften verändern wollen, Völker deportieren, Menschen stigmatisieren und zu Millionen umbringen lassen. Es gibt da einen qualitativen Unterschied. Das ändert nichts daran, dass Russland ein autoritäres Regime ist, das Jahr um Jahr unangenehmer wird.
Die mediale Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt stieß zum Teil auf starke Kritik. Halten Sie das für gerechtfertigt?
Die Kritik ist angebracht. Ich habe den Eindruck, dass es zum ersten Mal eine große Diskrepanz gibt zwischen dem, was in den Medien gesagt wird und was die Bevölkerung darüber denkt. Ich glaube, dass die Berichterstattung wirklich extrem einseitig ist.
Woran machen Sie das fest?
Zum Beispiel an dem Punkt, dass über die Flüchtlinge aus der Ukraine geredet wird, ohne zu erwähnen: Die flüchten alle nach Russland. Sie flüchten eben nicht in den Westen der Ukraine, sondern nach Russland. Das könnte man einfach erwähnen, und schon hat man ein anderes Bild. Warum flüchten die denn nach Russland, wenn das so ein schlimmer Aggressor ist?
Was glauben Sie, wie eine Lösung der Krise aussehen wird?
Es gibt zwei Szenarien: Wenn der Westen hart bleibt und sich mit Putin nicht an einen Tisch setzt, wird er sich die Ostukraine und den schmalen Streifen bis nach Odessa greifen. Nicht offiziell natürlich, das machen die Separatisten. Klügere Politiker würden mit Putin verhandeln und am Ende würde die Ukraine erhalten bleiben und den Status von Finnland bekommen. Das wäre die beste Lösung. Damit würde sich das Moskauer Regime einverstanden erklären. Die Ukraine wäre neutral wie Finnland oder Schweden und damit könnten alle Beteiligten gut leben.
Und wieso sollten sie auch nicht gut damit leben? Die Finnlandisierung wäre eine prima Lösung. Die Ukraine hätte endlich Ruhe. Für Russland, das sich nicht mehr bedroht fühlt. Und für den Westen auch, weil alle drei Seiten im Grunde ihr Problem gelöst hätten. Aber wenn ein Konflikt einmal angeheizt wurde, dann will niemand sein Gesicht verlieren.
Das Gespräch führten Michael Graupner, Kai Gräf und Felix Hackenbruch