Flüchtlinge, die in Europa landen, sind häufig noch nicht mal die Ärmsten der Armen. Das zumindest behauptet der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer.
Vor Lampedusa spielen sich oft dramatische Szenen ab. Mithilfe von Schmugglerbanden versuchen immer wieder Massen an afrikanischen Flüchtlingen der Armut zu entfliehen. So lernt man es jedenfalls in den Medien. Der Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück hat darauf einen anderen Blick, wie er in seinem Vortrag zum Thema „Migration und Minderheitenbildung im Europa des 20. Jahrhunderts“ im Historischen Seminar am 23. Oktober erklärte.
Eine Masseneinwanderung aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa sei nicht zu beobachten. Als Beispiel hierfür nannte er die Migration vom globalen Süden, den Entwicklungs- und Schwellenländern in den globalen Norden, den führenden Industrienationen. 2013 lebten laut UNO 81,9 Millionen Zuwanderer aus dem globalen Süden im globalen Norden. Der Anteil beträgt lediglich 1,2 Prozent der Weltbevölkerung. Auch für Deutschland lässt sich ein relativ kleiner Wert ausmachen. Von 1,26 Millionen Zuwanderern kommen lediglich rund 400.000 Menschen aus Gebieten außerhalb der EU und der USA. Dies ist nur ein halbes Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung, der Anteil an Einwanderern aus dem Nahen Osten und Afrika fällt deutlich geringer aus.
Denn laut Jochen Oltmer verhindert Armut Migration. Nur die Bessergestellten in den armen Regionen können es sich leisten, die hohen Transportkosten und genügend Startkapital für das Leben in Europa aufzubringen. Sie sind ehrgeizig, qualifiziert und jung: Die Mehrheit der Migranten ist zwischen 15 und 30 Jahre alt und auf der Suche nach Berufschancen. „Objektivierungen wie Flüchtlinge und Opfer sind zu vermeiden. Sie werden ihnen nicht gerecht“, so Oltmer.
„Objektivierungen wie Flüchtlinge und Opfer sind zu vermeiden. Sie werden ihnen nicht gerecht“
Mit Blick auf die aktuelle Integrationsdebatte in Deutschland um die muslimischen Einwanderer, merkt Oltmer im Gespräch an, dass es diese Gruppe so nicht gibt: Die Muslime unterteilen sich in verschiedene Herkunftsländer, die mit verschiedenen Zielen und zu verschiedenen Zeitpunkten nach Deutschland kamen. Ein wichtiger Begriff ist der der linearen Integration. Das heißt, Migranten wandern mit dem Ziel ein, zu bleiben, sich zu integrieren und nicht in ihr Heimatland zurückzukehren. Dies war bei den Familien der früheren Gastarbeiter nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Von 14 Millionen Gastarbeitern haben 12 Millionen Deutschland wieder verlassen. Dies war so von beiden Seiten geplant. Daher wurde nur eine Sprachkompetenz vermittelt, um effizient und ohne eine Sicherheitsrisiko arbeiten zu können. Die Kinder sollten lediglich die Herkunftssprache gut beherrschen, da von einer Rückkehr in das Heimatland ihrer Eltern wie der Türkei ausgegangen wurde.
In den 1970er Jahren zeigte sich, dass einige Gastarbeiter mit ihren Familien hier bleiben würden. Ab diesem Zeitpunkt hat es die Bundesregierung 20 bis 25 Jahre „verschlafen“, sich um eine Integration, etwa durch Sprachkurse, zu bemühen. Der Staat soll jedoch, laut Oltmer, letztlich nicht steuern, sondern nur die Bedingungen schaffen, damit sich Strukturen ausbilden, die eine Integration ermöglichen. Dazu gehört für Oltmer aber nicht ein islamischer Bekenntnisunterricht: „Es wäre verfehlt, den Staatskirchenvertrag auf immer mehr Gruppen auszuweiten. Unsere Gesellschaft wird immer diverser. Ein allgemeiner Werte- und Normenunterricht mit philosophischen Aspekten ist deutlich sinnvoller, als in der Institution Schule die Menschen nach Konfessionen zu trennen.“ Kommunikation sei stattdessen bei der aktuellen Debatte um Zuwanderer muslimischen Glaubens geboten.
Ein klassisches Beispiel für eine Fehlwahrnehmung ist die Debatte um muslimische Mädchen im Schwimmunterricht: 90 Prozent nehmen daran teil. Durch den Eindruck, dies sei ein generelles Problem der Muslime, wird die überwältigende Mehrheit zu Unrecht unter Verdacht gestellt. Mit einem solchen Vorgehen „schaffen Massenmedien Minderheiten in den Köpfen“, wie Oltmer betont. Für ihn kommen mit den Zuwanderern „erhebliche Potenziale ins Land“. Die Einflüsse verschiedener (Hoch-)Kulturen würden die deutsche Gesellschaft bereichern. Genauso würden die Wirtschaft und die Sozialsysteme angesichts des Fachkräftemangels und des demographischen Wandels profitieren. Dem folgt die Deutsche Industrie- und Handelskammer, die für den deutschen Arbeitsmarkt 1,5 Millionen weitere Zuwanderer fordert. Zudem bieten Einwanderer in einer globalisierten Welt auch der deutschen Wirtschaft eine Anbindung an die Märkte ihrer Heimatländer.
Daher kritisiert Oltmer in seinem Vortrag zurecht, dass in der (Forschungs-)Debatte bisher zu wenig auf die Rolle von nichtstaatlichen Institutionen wie Gewerkschaften, Vereine oder Unternehmen geschaut wurde. Dabei zeigt doch das Beispiel der Gastarbeiter und der Anwerbeverträge Mitte des 20. Jahrhunderts wie groß die Bedeutung nichtstaatlicher Akteure für das Thema Zuwanderung in Deutschland ist.
von Ziad-Emanuel Farag
Eine Reportage zu der Unterbringung von Flüchtlingen in Heidelberg findet ihr hier.