Vom 17. bis zum 21. November öffnete das Theater Heidelberg seine Vorhänge und Hintertüren für Studenten. Der „Theatercampus“ im Überblick.
Konzept
Der Hörsaal als Bühne? Vorstellbar, doch kaum wünschenswert. Das Theater als Lehrveranstaltung? Auch mit Vorsicht zu genießen. So horcht man auf, kündigt das Theater eine Fusion mit dem Campus an, die es unter dem Etikett „Theatercampus“ führt. Die Veranstaltungsformate waren breit gefächert: Neben Probenbesuchen, Workshops und Diskussionen zu laufenden Stücken konnten die Teilnehmer auch ausgewählten Berufsposten, wie dem Operninspizienten oder der Bühnenbildnerin, über die Schultern gucken.
Besonders bei Gesprächsrunden und Stammtischen ließ das Theater seine Hüllen fallen und brach die Distanz, die sonst Publikums- und Bühnenwelt so beflissentlich trennt. „Theater ist kein closed shop, wo man seine Kunst hinter verschlossenen Türen macht“, betont Holger Schultze, Intendant des Heidelberger Theaters. Gemeinsam mit Katharina Simmert, die mit der Festivalorganisation betraut war, erdachte er das Konzept und präsentierte den Theatercampus nun zum zweiten Mal. Ihr Anliegen: Studenten in Kontakt mit Theater zu bringen; zu ertasten, was junge Menschen eigentlich wollen und über dieses Bühnentreiben denken. Überhaupt wolle man Kooperationen mit der Universität verstärken, schließlich ist sich der Intendant sicher: Theater interessiert und bleibt relevant. Wieso Heidelberger Theatersäle dann nicht studentengeflutet sind, erkläre sich aus einem recht banalen Kontinuitätsproblem: Die wenigsten Studenten blieben längerfristig in der Stadt, und gerade an den Wochenenden, wenn das Vorstellungsangebot steige, sei die Stadt studentenarm.
Ob der Theatercampus Abhilfe schafft, bleibt abzuwarten. Die Teilnehmer jedenfalls sind überwiegend begeistert und besonders bei den anmeldepflichtigen Formaten zahlreich: Zu verschiedenen Backstage-Veranstaltungen versammeln sich 100 Studenten hinter karmesinroten Vorhängen und an der gemeinsamen Probe von Universitäts- und Theaterorchester sind viele studentische Musiker beteiligt. Nur die offenen Veranstaltungen finden wenig Zulauf und auch das triumphale Finale – die „Night of the Profs“ – wird eher verhalten frequentiert.
Selbst wenn die Umsetzung des Konzepts noch an manchen Ecken unter Schönheitsfehlern, wie teils mäßiger Betreuung der Teilnehmer oder ungeschickt besetztem Podium, leidet, so erweist es sich als vielfältig und anregend. Vor allem zeigt sich aber, dass Theater und Studenten gut zusammenpassen. Sie müssen einander nur regelmäßiger finden.
von Christina Deinsberger und Hanna Miethner
Tanz
Es ist ein skurriles Bild: 14 Beine, die sich in exakt gleichem Winkel in die Höhe spreizen. Es fällt nicht auf, dass eines davon das nicht jeden Tag tut, es sich bei seiner Vorderwade abgeschaut hat. Es gehört Immanuel Schah, den der Theatercampus an einem Novembervormittag zum Tanztraining der Dance Company Nanine Linning lotste.
Jetzt steht der PH-Student an einer Ballettstange, seinen Blick auf das Kreuz des Tänzers vor ihm geheftet und ist sichtlich bemüht. Mit 14 Jahren habe er sich an Breakdancing versucht, gewappnet hat ihn das kaum für 90 Minuten, in denen die Tanztrainerin die Kompanie mit immer neuen Bewegungsabläufen zur immer gleichen Klavierbegleitung versorgt. Sie spricht vor, alle übrigen sprechen nach.
Ob es ihm gefallen habe: Schon. Immerhin sind die Bewegungen faszinierend, und die Nähe zu Menschen, die acht Stunden am Tag anatomische Gesetzmäßigkeiten herausfordern, beeindruckend. Das Training endet für den Studenten um zwölf Uhr. Im Anschluss haben weitere Zuschauer die Möglichkeit, der Probe zu Nanine Linnings neuer Produktion „Hieronymus B.“ beizuwohnen. Dieses Mal von Bierbänken vor der Tanzfläche aus.
Bei der Tanzvisite verbinden die Organisatoren theoretische und praktische Aspekte der Aufführung. Peter Schmidt vom Institut für Europäische Kunstgeschichte führt in das Werk des Malers Bosch ein. Ausgehend von der Biografie beschreibt er die Rezeption seiner Kunst „der Monstrositäten, des Höllischen und Ungewöhnlichen“. Anhand der Bilder zeigt er auf, wie Bosch die Menschheitsgeschichte vom Paradies bis zum Jüngsten Gericht und der Hölle darstellt. Ergänzt wird der Vortrag durch den Beitrag des Tanzdramaturgen Phillip Koban, der Requisiten und Kostüme vorführt und die Interpretation des Werks im zeitgenössischen Tanz erläutert. Dadurch erkennen die Zuschauer nicht nur die Fotokopien der Werke Boschs an den Studiowänden wieder, sondern können auch die Choreografie als Interpretation der sieben Todsünden deuten.
Tanztraining und -visite lenken also den Blick nicht nur hinter die Kulissen, sondern lassen ihn auch weit hinter die erste Aufführung zurückgehen. Selten sonst dürfte sich die Gelegenheit ergeben, Tanz im Entstehungsprozess zu sehen und Tänzer beim lauten
Atmen zu hören.
von Hanna Miethner und Janina Schuhmacher
Oper
Unkonventionell und hochdramatisch verführt Violetta, Protagonistin in Giuseppe Verdis „La Traviata“, seit jeher das Opernpublikum. Die amüsierfreudige Kurtisane gibt sich der Liebe zu dem charmanten, aber mittellosen Alfredo hin. Doch Geldmangel, Violettas gesellschaftliche Unwürdigkeit sowie ihre tödliche Krankheit erschüttern die aufkeimende Harmonie der jungen Liebe. Nun bringt Regisseurin Eva-Maria Höckmayr die skandalumwobene Konkubine auf die Heidelberger Bühne.
Die szenischen Aufarbeitung des Opernklassikers hinterlässt den Zuschauer jedoch in Verwirrung. Höckmayr greift tief in die Trickkiste der bewährten Regiemittel, reißt viele Gedanken an und verstrickt diese ineinander. So steigt die Inszenierung bereits mit dem dramaturgischen Ende des Stücks, dem Tod Violettas und Applaus eines Bühnenpublikums, ein. Diese Metaebene wird durch eine weitere gebrochen, als eine zweite Violetta-Figur, die erkennbar einem späteren Erzählzeitpunkt zuzuordnen ist, auftritt. Durch jene immer wiederkehrende zeitgleiche Abbildung der Leitfiguren in einer parallelen Dimension eröffnet sich die Gedanken- und Seelenwelt des stets auf der Bühne anwesenden Alfredo. Auch wenn die Bilder, die Höckmayr findet, grundsätzlich erfreulich klar und schlicht angelegt sind, schlägt der exzessive Einsatz von Hebebühne und Spiegelwänden Bruch um Bruch. Statt damit instabile Beziehungsgeflechte oder das komplexe Innenleben der Protagonisten zu unterstreichen, erschwert dieser ständige Motivwechsel die Konzentration auf den Handlungsstrang.
Optisch entspricht die Besetzung dem Idealbild – Irina Simmes als reizende, schlanke Violetta, Jesus Garcia als attraktiver, südländischer Alfredo. Und auch Kostümierung und Bühnenbild sind zeitgemäß und ansprechend. Die Farbensymbolik lässt Violetta zwischen verführerisch rot gekleideter Gesellschaftsdame und entblößtem, reinem Mädchen im weißen Unterkleid erscheinen. Das setzt zumindest eine Leitlinie, der der Zuschauer problemlos folgen kann.
Gesanglich bleibt der Abend jedoch allenfalls solide. Zwar werden auch anspruchsvolle Koloraturen selbst im Sitzen, Liegen oder Laufen sauber bewältigt, doch fehlen musikalische Wagnis, stimmliche Farbenvielfalt und Eigenart. Die außergewöhnliche Musik, die zwischen perlend leicht und erschütternd dramatisch schwingt, kann sich so nur bedingt entfalten.
Nichtsdestoweniger wird die Darbietung vom Publikum mit großem Applaus belohnt.
von Christina Deinsberger
Schauspiel
„Die Radikalisierung Bradley Mannings“ ist ein rund 70-minütiges Stück des britischen Dramatikers Tim Price über die Lebensgeschichte eines der bekanntesten Whistleblower dieser Tage. Bradley Manning heißt heute nach erfolgter Namensänderung Chelsea Manning und ist unter anderem wegen Diebstahls und Spionage im Militärgefängnis von Fort Leavenworth im US-Bundesstaat Kansas inhaftiert.
In seinem Theaterstück bringt Price ausgewählte Lebenssituationen der ehemaligen Soldatin auf die Bühne, die für die folgenreiche Entscheidung Mannings maßgeblich waren, diverse vertrauliche Dokumente des US-Militärs an WikiLeaks weiterzugeben. Price legt den Fokus hierbei bewusst auf diejenigen Augenblicke, die prägend für Mannings Persönlichkeitsentwicklung waren. Dabei wird die Lebensgeschichte nicht linear erzählt. Zudem wird Manning von verschiedenen Darstellern und Darstellerinnen verkörpert. So ist letztlich jeder mal Manning, denn jeder kann zu einer Manning werden. Aber auch ansonsten ist die Inszenierung von Caro Thum keineswegs etwas Alltägliches: Zum Ende wird ein von WikiLeaks veröffentlichtes Video, auf dem US-Soldaten unbewaffnete Zivilisten aus einem Hubschrauber heraus töten, auf eine Leinwand projiziert. Dieser im Skript nicht vorgesehene Einspieler stellt eine mutige Entscheidung Thums dar. Er begründet neben der persönlichen Dimension eine politische – und es gelingt Thum vorzüglich, beide Ebenen eindrucksvoll zu verbinden. Der Schlussszene kommt allerdings wieder ein Auftritt Mannings zu, der nunmehr in Militärhaft sitzt und trotz der Folter durch Dauerbefragung das erste Mal einigermaßen zufrieden erscheint. Die Inszenierung schließt den Kreis zu dem Titel des Stücks, und der Zuschauer fühlt sich an die Worte Mannings erinnert, mit denen sie ihr Strafurteil kommentierte: „Ich bewege mich vorwärts, ich werde mich davon erholen“.
Das Theater Heidelberg zeigt als erstes Schauspielhaus Deutschlands ein Dokument der Zeitgeschichte, das die persönlichen Aspekte rund um die Veröffentlichungen von WikiLeaks zutage bringt. Anders als Julian Assange ist Chelsea Manning nämlich kein „Popstar“. „Die Radikalisierung Bradley Mannings“ füllt daher eine wichtige Lücke in der zeitgeschichtlichen Rezeption dieses Themas, in Heidelberg durch Caro Thum brillant in Szene gesetzt.
von Malte Krohn