Vor hundert Jahren wurde die „Leica“ erfunden. Ohne die legendäre Kamera wäre das 20. Jahrhundert nicht zu sehen.
Der größte Teil der Menschheitsgeschichte verlief, im Vergleich zu heute, mehr oder weniger bildarm. Das gemeine Volk bekam große Abbildungen nur in Kirchen zu sehen, man hatte keine Ahnung wie entfernte Verwandte wohl aussahen, geschweige denn der Rest der Welt. Die Reichen ließen sich zwar porträtieren, doch fiel das Ergebnis häufig um einiges schmeichelhafter aus als die Realität. Erst viel später sah man in Zeitungen regelmäßig Zeichnungen und Karikaturen, was auch noch so blieb, als die Fotografie im 19. Jahrhundert bereits erfunden war, da die langen Belichtungszeiten spontane Aufnahmen unmöglich machten. Am meisten verbreitet war die Porträtfotografie, bei der der Fotografierte minutenlang in die Kamera starren musste; größere Szenen konnten meist nur als Standbilder nachgestellt werden, weshalb man häufig Zeichnungen den Vorzug gab.
Das 20. Jahrhundert hingegen ist ohne Fotos nicht vorstellbar. Kriege und Ikonen, Straßenszenen und Momentaufnahmen: Das Jahrhundert ist fotografierte Geschichte. Nick Úts Aufnahme eines Napalmangriffs in Vietnam ist ebenso Teil des kollektiven Gedächtnisses wie der einsam New York durchstreifende James Dean. Mit Che Guevara verbinden wir das millionenfach verbreitete Portrait von Alberto Korda, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das sich küssende Pärchen auf dem Times Square. All diese Bilder haben gemeinsam, dass sie von einer Kamera eingefangen wurden, die vor gut 100 Jahren im hessischen Wetzlar erfunden und deren Prinzip für die analoge Fotografie richtungsweisend wurde: die „Leica“.
Der Feinmechaniker Oskar Barnack, Mitarbeiter der Firma Leitz, die eigentlich Mikroskope herstellte, konstruierte 1914 den Prototyp der ersten Kleinbildkamera der Welt. Diese funktionierte nicht mehr mit großen Platten, sondern mit 35mm-Kinofilmrollen, deren Format Barnack verdoppelte, sodass sich das Seitenverhältnis von 3:4 auf 2:3 änderte. Die Verwendung von Filmen ermöglichte ein deutlich kompakteres und kleineres Kameragehäuse, das leichter zu transportieren war. Barnack, selbst Hobbyfotograf, hatte die Kamera zunächst für sich selbst gebaut, um auf seinen Ausflügen weniger tragen zu müssen. Doch die Idee war so gut, dass Ernst Leitz beschloss, sie für seine Firma unter dem Namen „Leica“ (Leitz Camera) zu vermarkten. Ergänzt wurde das Modell durch ein versenkbares Objektiv, das Max Berek speziell für Barnacks Kamera entwickelt hatte. Die „Leica I“, aufgrund des Weltkriegs erst 1925 auf den Markt gebracht, bereitete rasch den Weg für andere Amateurfotografen, da sie die Möglichkeit gab, jederzeit und deutlich kostengünstiger Fotos zu schießen. Man mag diese Entwicklung mit der heutigen Digital- und Handyfotografie vergleichen, die im Gegensatz zu der vorherigen Menge an Fotos zu einer ganzen Flut von Bildern führte. Mit der Weiterentwicklung der Fotografie begann die große Zeit der Illustrierten, die mit ihren Modestrecken und Fotoreportagen eine neue Art des Journalismus etablierten. Da keine umfangreiche Ausrüstung mehr vonnöten war, eignete die Leica sich ideal zum Reisen. Zeitschriften wie das berühmte Life Magazine stellten feste Fotografen ein, die in langen Bildstrecken von entlegenen Teilen der Erde berichteten. Auf einmal war es möglich, spontane Straßenszenen festzuhalten, da die Leica unauffällig und leicht war und durch ihre kürzeren Belichtungszeiten Motive auch ohne Stativ scharf abgelichtet werden konnten. So sagte der italienische Fotograf Gianni Berengo Gardin: „Die Leica mit ihren Möglichkeiten schnell zu agieren und zu reagieren, das war für mich wie der Bleistift des Schriftstellers. Diese Kamera erlaubte mir, Geschichten zu erzählen.“
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FOTOSTRECKE Bilder aus der Leica-Historie
Eine Reihe dieser Geschichten war kürzlich in der Ausstellung „Augen auf! Hundert Jahre Leica“ in den Hamburger Deichtorhallen vereint und wird außerdem noch in Frankfurt, Berlin, Wien und München zu sehen sein. Der begleitende Katalog ist im Heidelberger Kehrer Verlag erschienen und versammelt, geordnet nach Strömungen und Ländern, hunderte von Fotos bekannter und unbekannter Fotografen, die die neue Kunstform hervorbrachte. Mit der Leica wurden Fotografen berühmt wie Künstler und die Kamera zum Kultobjekt. Henri Cartier-Bresson, der sie sein „verlängertes Auge“ nannte, blieb ihr Zeit seines Lebens treu; Barbara Klemm hielt mit ihrem „kleinen Juwel“ die berühmten Momente der deutschen Geschichte wie den „Bruderkuss“ fest, und auch der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado, dessen Werk Wim Wenders kürzlich in seinem neusten Dokumentarfilm „Das Salz der Erde“ beleuchtete, schoss das erste Foto seiner Karriere mit der Leica seiner Frau. Die Liste berühmter Namen, die mit ihr verbunden sind, ist beträchtlich und ließe sich noch eine ganze Weile fortführen. Inzwischen hat die Leica AG auch Digitalkameras auf den Markt gebracht, doch die Analogserie wird mit der M7 und der MP weiterhin produziert. Ob die Leica im Zeitalter der Digitalfotografie ihre analoge Erfolgsgeschichte wird fortsetzen können?
von Anna Vollmer
Hans-Michael Koetzle (Hrsg.) „Augen Auf! 100 Jahre Leica“
Kehrer Verlag
564 Seiten, 98 Euro