Heidelberger Historiker betreten Neuland: Sie untersuchen erstmals die Rolle der Landesministerien in der NS-Zeit.
Es gibt eine Legende, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hartnäckig hält. Sie erzählt von Ministerien ohne Macht und Einfluss, die in der Zeit des „Dritten Reiches“ existiert hätten, von Ministerien, die völlig bedeutungslos gewesen seien, mit bürokratischem Alltag beschäftigt und vor allem gänzlich unbeteiligt an irgendwelchen Verbrechen. Es ist die Legende von den Landesministerien, die in Hitlers straff zentralistischem Führerstaat allenfalls als regionale Staffage gedient hätten.
„Solche Behauptungen dienten nach dem Zweiten Weltkrieg meist als Rechtfertigungsstrategien“, erklärt Frank Engehausen, Dozent am Historischen Seminar. „Nach unseren bisherigen Erkenntnissen stimmen sie mit der Wirklichkeit meist nicht überein.“
Engehausen ist Koordinator eines Forschungsprojektes, das sich seit 2014 mit der Rolle der badischen und württembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Das Heidelberger Team, das aus den Dozenten Frank Engehausen und Edgar Wolfrum sowie drei wissenschaftlichen Mitarbeitern des Lehrstuhls für Zeitgeschichte des Historischen Seminars besteht, untersucht die Rolle mehrerer badischer Ministerien. Auch die Universitäten Stuttgart, Freiburg, Bonn und Erfurt sind an dem Projekt beteiligt. Mit ihm stößt man in Neuland vor, denn bisher fehlen vergleichbare Studien zu diesem Thema.
Vom Land wurden dem Projekt Fördergelder für drei Jahre bewilligt; bis dahin soll die Forschungsarbeit abgeschlossen sein. „Bisher hatte man sich intensiv mit der Führungsriege des NS-Staats beschäftigt sowie mit der Umsetzung auf lokaler Ebene“, so Engehausen. „Nun soll die Ebene dazwischen betrachtet werden, die bisher oft vernachlässigt wurde.“
Vermutlich schien eine Beschäftigung mit der Rolle der Landesministerien bisher wenig ertragreich. Denn tatsächlich bedeutete die nationalsozialistische Machtübernahme zunächst einen deutlichen Bedeutungsverlust der Länder: In zwei Gesetzen wurde ihnen am 31. März und am 7. April 1933 ein Großteil ihrer Kompetenzen entzogen, die Landesregierungen „Reichsstatthaltern“ unterstellt. Dennoch: „Die meisten Landesministerien blieben bestehen, und sie konnten in einigen Bereichen ihre Kompetenzen bewahren“, erläutert Engehausen. Das Nebeneinander von Statthaltern und Ministerien passt dabei ganz ins System nationalsozialistischer Machtpolitik, die auch auf dem Nebeneinander konkurrierender – und, wie man hoffte, miteinander wetteifernder – Institutionen beruhte.
Zu den Bereichen, in denen Entscheidungen auf Landesebene gefällt wurden, gehörte die Schulpolitik, immerhin bis 1934 Ländersache. Für Engehausen ist sie ein gutes Beispiel für die Spielräume, die sich den Ministerien boten: „Während man sich auf Reichsebene vor allem mit den Gymnasien beschäftigte, kümmerte sich das badische Kultusministerium in Eigenregie um das Grund- und Hauptschulwesen.“
Auch die häufig auftauchende Behauptung, die süddeutschen Ministerien hätten die Befehle aus Berlin abzumildern gesucht, ist seiner Ansicht nach ein Mythos: „Wir haben im Gegenteil Indizien, die darauf hindeuten, dass hier mit besonderem Eifer und in vorauseilendem Gehorsam gehandelt wurde.“ Ohnehin ließen sich tägliche Verwaltungsarbeit und die Beteiligung an Verbrechen oft nicht so klar trennen, wie nach dem Krieg gerne behauptet wurde. Innenminister Karl Pflaumer etwa ließ schon 1935 die jüdischen Bewohner des Landes in einer Kartei erfassen.
Die Rolle Pflaumers und seines Ministeriums untersucht Miriam Koch, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte. „Pflaumer, selbst NSDAP-Mitglied, hatte sich den Machthabern in Berlin als Helfer regelrecht angebiedert“, erklärt sie. Hier wie andernorts bauten die Nazis offenbar auf eine bewährte Mischung: NSDAP-Mitglieder übernahmen wichtige Führungspositionen, daneben blieben Opportunisten und Sympathisanten aus der alten Elite.
Reichsstatthalter und damit Aufseher der Landesregierung war Robert Wagner, ein fanatischer Nationalsozialist, der die NSDAP in Baden überhaupt erst aufgebaut hatte. Er befahl bereits im Oktober 1940 die Deportation der Juden in seinem Machtbereich und die „Arisierung“ ihres Vermögens – ein Jahr, bevor sie im übrigen Reich planmäßig begannen. Dabei griff er vor allem auf die Listen Pflaumers zurück.
Wie weit die Aufgaben in den Ministerien zuweilen gingen, macht der Umstand deutlich, dass sie ab 1940 auch für die Zivilverwaltung des Elsaß zuständig waren. Dennoch konnten viele führende Mitarbeiter die eigene Rolle in der Nachkriegszeit meist erfolgreich auf die eines reinen Befehlsvermittlers herunterspielen. So gab es auch auf Landesebene nach 1945 manch ungebrochene Kontinuität. Koch etwa ist bei ihren Recherchen auf den Fall von Paul Werner gestoßen: „Er war ein Polizist, wurde 1933 Leiter des Badischen Kriminalamtes und später Stellvertretender Leiter des Reichskriminalpolizeiamts. 1951 kam er in den badischen Ministerialdienst, dann ins Landesinnenministerium in Stuttgart und wäre beinahe Chef des BKA geworden.“ Inwieweit es sich bei solchen Karrieren um Einzelfälle handelte, muss aber noch untersucht werden.
Ihre bisherigen Ergebnisse hat die Forschungsgruppe auf einem Online-Portal veröffentlicht, das dem Besucher umfangreiche Informationen bietet. Der Austausch mit der Öffentlichkeit ist ein wichtiges Anliegen. Auch erhofft man sich aus der Bevölkerung Hinweise zu Akten, wie sie 1945 oft in Kellern und auf Dachböden landeten. Eines aber hat das Projekt schon jetzt unter Beweis gestellt: Was die Rolle von Ämtern und Behörden im nationalsozialistischen Deutschland angeht, gibt es noch so manches zu erforschen.
von Michael Abschlag