Seit Juli 2013 verhandeln die USA und die Europäische Union über das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP und den Abbau von Handelshemmnissen. Bietet die Öffnung der Märkte den Bürgern der EU neue Möglichkeiten oder stellt sie eine Gefahr für Arbeitnehmer und Verbraucher dar? Zwei Experten sprechen sich für das Abkommen aus.
Peter Simon, Mitglied des Europäischen Parlaments (SPD):
Die Verhandlungen um ein mögliches Handels- und Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA (TTIP) stehen seit Monaten im Fokus der Öffentlichkeit. Stark geprägt ist die nationale Debatte in einer Reihe von Mitgliedstaaten aber vor allem von den Sorgen und Befürchtungen vieler Menschen.
Die „roten Linien“ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu TTIP sind klar abgesteckt. Auf einem Parteikonvent im September 2014 haben wir Sozialdemokraten festgelegt, dass wir TTIP in jedem Fall nur dann als zustimmungsfähig erachten, wenn bestimmte Leitplanken eingehalten werden: Ein Handels- und Investitionsabkommen mit den USA darf keine Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutz-, Sozial- und Umweltstandards gefährden. Gleiches gilt auch für unseren Standard bei der öffentlichen Daseinsvorsorge. Es muss sichergestellt werden, dass die hohe Qualität unserer Daseinsvorsorge in kommunaler Verantwortung gewahrt bleibt und ein umfassender Gestaltungsspielraum garantiert ist. Einen direkten oder indirekten Zwang zur Privatisierung oder Liberalisierung von Daseinsvorsorge lehnen wir strikt ab.
Direkt damit einher geht das demokratische Recht, Regelungen zum Schutz von Gemeinwohlzielen zu schaffen, welches weder ausgehebelt noch umgangen werden darf. Investor-Staat-Schiedsverfahren, die dazu führen könnten, dass die EU oder Mitgliedsstaaten von Unternehmen aufgrund von derartigen Regelungen direkt auf Entschädigung für entgangene Gewinne verklagt werden, braucht es deshalb nicht. Schließlich haben die USA und die Europäischen Staaten bereits zuverlässige und hoch entwickelte Rechtssysteme, die Investoren ausreichend schützen.
Im Lebensmittelbereich und beim Verbraucherschutz gilt in der Europäischen Union das Vorsorgeprinzip. Eine Marktöffnung darf deshalb nicht zu Lasten der Verbraucher gehen. Besonders im Bereich der Lebensmittelsicherheit muss die Einführung von Fleisch von hormonbehandelten Tieren und bestimmten Biotech-Produkten in die EU ausgeschlossen sein. In diesem Bereich bietet sich vielmehr die Möglichkeit, europäische Errungenschaften, wie den Schutz von Lebensmitteln mit geographischen Angaben, auch in den USA durchzusetzen.
Bestehende Bedenken gegen TTIP müssen ausgeräumt werden – das steht außer Frage. Und dabei sind alle beteiligten Akteure gefragt.
Auch gilt es, die Chancen eines solchen Freihandelsabkommens in den Verhandlungen herauszuarbeiten und alles daran zu setzen, dass neben der Intensivierung der Handelsbeziehungen und der Schaffung neuer Arbeitsplätze insbesondere auch die wechselseitige Verbesserung wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Standards ganz oben auf der Agenda der Verhandlungen steht – und nicht eben deren Verschlechterung wie oft befürchtet. In diesem Fall bietet ein Abkommen solcher Dimension die vielleicht einmalige Chance, Standards für den Handel in der Welt zu etablieren, welche Benchmarks setzen für künftige Abkommen der beteiligten Partner wie auch Abkommen von Drittstaaten rund um den Globus.
Noch ist TTIP nicht ausgehandelt. Ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments wird es auch nicht in Kraft treten. Und das wir fragwürdigen Abkommen einen Riegel vorschieben, haben wir nicht zuletzt schon mehr als einmal bei ACTA unter Beweis gestellt. Genauso werden wir Sozialdemokraten im Europäischen Parlament auch diesmal vorgehen: Wachsam, kritisch – aber immer konstruktiv.
Marc Bungenberg, Inhaber eines Lehrstuhls für internationales Wirtschaftsrecht und Europarecht an der Uni Siegen:
Der EU bietet sich derzeit – nachdem sich der Multilateralismus seit dem Scheitern der Doha-Runde in einer Krise befindet – die Möglichkeit, sich im globalen Wettbewerb der Wirtschaftssysteme durch den Abschluss umfassender bilateraler Handels- und Investitionsschutzabkommen zu positionieren und zugleich die zukünftige Ausgestaltung des internationalen Wirtschaftsrechts entscheidend mit zu beeinflussen. Besonders die exportabhängige deutsche Wirtschaft ist auf die weitere Reduzierung von Marktzugangsbeschränkungen in Drittstaaten angewiesen – hierzu dienen unter anderem die schon abgeschlossenen oder sich in Verhandlung befindlichen Handels- und Investitionsschutzabkommen mit Kanada, Singapur, den USA, Japan, Indien und Vietnam oder auch das Investitionsschutzabkommen mit China. Auch die USA sind ihrerseits bemüht, ihrer Wirtschaft den asiatisch-pazifischen Wirtschaftsraum durch den Abschluss eines Abkommens über die Trans-Pacific Parnership zu eröffnen.
Im Rahmen dieser Verhandlungen können Fehlentwicklungen oder Defizite des bestehenden Handels- und Invest-itionsschutzregimes behoben und Verbesser-ungen für die Zukunft angegangen werden. Dies lässt sich besonders eindrücklich im Bereich des Investitionsschutzrechtes aufzeigen: Es handelt sich um einen bereits seit 1959 in der Entwicklung befindlichen Bereich des internationalen Wirtschaftsrechts, und nicht etwa um (wie häufig in den verkürzten Darstellungen in der Tagespresse behauptet) ein neues trojanisches Pferd in den aktuellen Verhandlungen. Über 130 Zustimmungsgesetze Deutschlands zu solchen bilateralen Investitionsschutzabkommen haben in der Vergangenheit den deutschen Bundestag passiert, bis vor Kurzem ohne größere Kritik durch die deutsche Politik, Presse und Zivilgesellschaft. Wurde in der jüng-eren Vergangenheit die fehlende Transparenz von Investitionsschiedsverfahren wie auch ein zu großer Beurteilungsspielraum der Schiedsrichter bemängelt, so werden diese Schwachstellen in der neuen, von der EU ausgehandelten Abkommensgeneration, die die mitgliedstaatlichen Investitionsschutzabkommen ablösen soll, weitgehend behoben. Verhandlungen der Schiedsgerichte sollen nach den bereits ausgehandelten Abkommenstexten mit Kanada (CETA – Comprehensive Economic and Trade Agreement) und Singa-pur öffentlich sein und Dritten die Möglichkeit zur Stellungnahme er-öffnen. Ebenso wird den Schiedsgericht-en durch einen genaueren Wortlaut bei den Schutzstandards (insbesondere bei der indirekten Enteignung, dem Meistbe-günstigungsgrundsatz und dem Grundsatz der gerechten und billigen Behandlung) Beurteilungsspielraum genommen oder der Schutzumfang wird sogar ausdrücklich beschränkt. Die Entscheidungen der Schiedsgerichte werden daher vorhersehbarer.
Es gelingt der Kommission als Verhandlungsführerin der EU derzeit somit, einen eigenständigen, sich von ihren Mitgliedstaaten unterscheidenden, modernen und ausbalancierteren Neuansatz dieses Politikbereichs zu entwickeln. Sollte sich die EU allerdings aus den Verhandlungen mit den USA verabschied-en, überließe man die entscheidende Rolle für die Neuausgestaltung des Investitionsschutzregimes vor allem den USA und China. Diese beiden Staaten verhandeln zeitgleich ein Investitionsschutzabkommen untereinander und würden hier die entscheidenden Weichenstellungen autonom vornehmen können. Die EU verlöre ihre Einflussnahmemöglichkeiten hinsichtlich der Durchsetzung eines ausbalancierteren, kohärenten und transparenten zukünftigen Investitionsschutzrechtes. Es wäre zudem kaum darzulegen, warum mit China oder manchen anderen Staaten unter anderem Investitionsschutzverträge weiterhin als Grundlage für Wirtschaftsbeziehungen dienen sollten, aber in Verhandlungen mit den USA, wo tatsächlich qualitative Neuorientierungen und dann globale gemeinsame Einflussnahmen möglich sind, dieses Thema gestrichen wird. In diesem Fall bliebe es auch beim mitgliedstaatlich begründeten und aus vielerlei Sicht tatsächlich kritikwürdigen, althergebrachten Investitionsschutzsystem.