Das neue Christentum: charismatisch, hip – und fundamentalistisch? Ein Besuch bei christlichen Studentengruppen.
Manchmal, da überfährt mich Gott einfach so“, verrät der Bassist der Lobpreisband beim Gottesdienst von „Campus für Christus“. 200 Zuhörer, die meisten sind Studenten, bedenken das spontane Gotteslob mit zustimmendem Nicken. Dann wieder gefühlvolle Gitarrenmusik, dazu die zum Mitsingen an die Wand projizierten Liedtexte, die viele der Anwesenden gar nicht sehen können, weil sie die Augen geschlossen halten, während sie sich ekstatisch ihrer Glaubensemotion hingeben und die Hände zur Hallendecke erheben. Alle hier sind nun ein bisschen von Gott überfahren.
„Campus für Christus Heidelberg“ ist eine christliche Studentengruppe, die davon träumt, „dass jeder Student die befreiende Liebe Gottes erlebt und sich für ein Leben unter seiner Regie entscheidet.“ Wer zu den vierzehntägigen Gottesdiensten „connectHD“ kommt, muss kein Sonderling sein. „Glückskind“-Jutebeutel und „What would Jesus do?“-Armbändchen sichtet man seltener als erwartet. Dass sich hier alles um eben jenen jüdischen Wanderprediger dreht, steht gleichwohl außer Frage: „Ich habe mein Leben Jesus geschenkt“, bekennt etwa Julia*, die heute für Menschen betet, die zum ersten Mal zum „connect“ kommen. Wer schon länger dabei ist, findet sich in selbst organisierten Hauskreisen wieder. Einmal in der Woche tauscht man sich dort persönlich aus, singt, liest gemeinsam in der Bibel und betet füreinander. Im Mittelpunkt steht hier wie beim Gottesdienst das gemeinsame Glaubenserlebnis.
Was die Leute anzieht, ist schwer zu sagen. Pastoren in Jeans und Hoodie, spontanes Gotteslob, spirituelle Rockmusik: Die Veranstaltungen geben sich ganz formlos und unverstaubt, was freilich auch wieder eine Form der Liturgie ist. Im Grunde macht diese Gestalt des Glaubens ein niedrigschwelliges Angebot, das sich abgrenzt von einem Christentum, wie es in den etablierten Landeskirchen praktiziert wird. Flache Hierarchien, innige Zusammengehörigkeit, viel Gefühl: das klingt schon fast nach einem Programm, will aber gerade keines sein. Denn jeder kann mitmachen und: jeder soll mitmachen. „Je mehr wir sind, desto besser“, erklärt der Prediger. Entsprechend ist die Kollekte für Missionszwecke bestimmt. Die Freude über neue Schäfchen in der Herde ist den CfC-Organisatoren dann auch unschwer anzumerken.
Was ist das für ein Phänomen, das sich wachsender Beliebtheit erfreut und von so vielen Menschen geteilt wird, die in einen Topf zu werfen dennoch ungerecht wäre? Aus religionswissenschaftlicher Perspektive handelt es sich um eine Form pfingstlich-charismatischer Glaubenspraxis; nicht wenige bei „Campus für Christus“ sehen sich selbst in dieser Tradition. Manche berufen sich auf das „Azusa Street Revival“, das gemeinhin als Geburtsstunde der Pfingstbewegung gilt: Bei diesem Erweckungserlebnis in Los Angeles im Jahr 1906 sollen plötzlich charismatische Geistesgaben wie Zungenrede und Prophetie zu beobachten gewesen sein, wie sie in Paulus’ Brief an die Korinther beschrieben sind. Das Reden in für Außenstehende unverständlich aneinandergereihten Lauten gehört zum Teil noch heute zum Bestand der charismatischen Glaubensform, obgleich sich damit noch kein verbindlicher Katalog ritueller oder spiritueller Spezifika beschreiben ließe. Die Studenten bei „Campus für Christus“ gehören alle zugleich einer katholischen, evangelischen oder einer der diversen freikirchlichen Gemeinden an. Das herkömmlich praktizierte Christentum allein scheint vielen aber nicht zu genügen.
„Manchmal habe ich das Gefühl, die Bibel könnte auch ein Buch von Goethe sein“, beklagt Daniel*, Theologiestudent und Mitglied einer freien evangelischen Gemeinde. In der historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung, wie sie etwa am Heidelberger Theologischen Seminar praktiziert wird, sieht er eine Verwässerung der „göttlichen Wahrheit“. Einen „Patchworkglauben“, der versucht, in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft niemandem mit überkommenen Dogmen auf die Füße zu treten, hält er für einen Irrweg. Ihm geht es darum, das Wort Gottes ernst zu nehmen und „konsequente Glaubensinhalte zu vermitteln“.
Ich habe mein Leben Jesus geschenkt
Worin diese bestehen, wird schnell klar. Sex vor der Ehe kommt für den frisch verheirateten 23-Jährigen nicht in Frage. Ehescheidung hält er „nur im Notfall“ für zulässig – etwa bei häuslicher Gewalt. Aber auch hier gelte es, „an der Beziehung zu arbeiten und nicht gleich das Handtuch zu werfen.“ Schließlich habe man sich vor Gott ein Versprechen gegeben. Ähnliche Positionen – Abtreibung, Homosexualität oder Geschlechtsidentitäten betreffend – findet man bei „Entschieden für Christus“, einer weiteren überkonfessionellen und evangelikalen Studentengruppe. „Ich sehe das so“, erklärt dort ein Biblizist: „Entweder man entscheidet sich für die Bibel – oder für den Zeitgeist. Die Ablehnung von Homosexualität ist heute zwar verpönt. In hundert Jahren kann das schon wieder ganz anders aussehen.“ Dass gleichgeschlechtliche Liebe eine Sünde sei, dürfe man in einer liberalen Gesellschaft zwar nicht sagen – wahr bleibe es trotzdem.
Es ist ein Paradox: Die freie, individuelle und durchaus aufrichtige Glaubenspraxis, die einem bei den christlichen Studentengruppen begegnet, geht häufig einher mit einem gesellschaftlichen Konservatismus, den man eher der Vorkriegsgeneration zuordnen würde als einem in einer postmodernen Welt aufgewachsenen jungen Menschen. Bei „Campus für Christus“ oder „Entschieden für Christus“ kann man Menschen kennen lernen, bei denen klar wird, dass es nicht nur einen islamischen Fundamentalismus gibt, sondern auch einen christlichen. Schon klar: Diese Leute bauen keine Scheiterhaufen, legen keine Bomben und enthaupten auch keine Atheisten. Zu einer offenen Gesellschaft gehört es zudem, dass auch vermeintlich überkommene Positionen toleriert werden. Dennoch ist, wo die Bibel als universale und unfehlbare Begründungsinstanz herangezogen wird, nicht nur der Umgang mit alternativen Lebensentwürfen problematisch, sondern auch das Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften.
„Besonders die Einstellungen gegenüber dem Islam erscheinen mir gefährlich“, findet Benni Krauß. Der Theologe und Freikirchler beklagt, Radikalpositionen begegneten ihm „häufiger, als mir lieb ist“. „Dabei wäre es wichtig, sich durch kritisches Denken herausfordern zu lassen.“ Sein Plädoyer ist klar: differenzierte Reflexion statt Rückzug ins argumentative Arkanum, in das man in der Regel nur folgen kann, wenn man gewisse Glaubensprämissen akzeptiert. Der freichristliche Fall in den Kaninchenbau bedeutete für viele dann: die Bibel ist in ihrem Wortsinn wahr, der Geist gibt Geleit, Gott interveniert in der Welt. „Die Bibel bleibt stabil. Das war auch schon vor tausend Jahren so“, erklärt man bei „Entschieden für Christus“.
Das Wort Gottes ernst nehmen
„Der Verweis auf die Bibel ist stabil, nicht der Inhalt“, hält Yan Suarsana dagegen. Der Heidelberger Religionswissenschaftler erforscht gemeinsam mit seinem Kollegen Giovanni Maltese das Phänomen des pfingstlich-charismatischen Christentums, das als eine erfolgreiche Massenbewegung vor allem im globalen Süden längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Was diese Pfingstgemeinden mit den Heidelbergern gemeinsam haben, ist zunächst nur der Begriff. Und auch der entzieht sich leicht: „Die Pfingstbewegung ist eine komplexe und pluralistische, über deren charakteristische Merkmale in der Forschung noch immer gestritten wird“, erläutert Maltese. Nicht einmal quantitativ lassen sich sichere Angaben machen: Zwar gibt es in Deutschland den „Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden“ mit etwa 50 000 Mitgliedern, jedoch erfasst diese Zahl nicht all diejenigen, die tatsächlich eine pfingstlich-charismatische Glaubenspraxis pflegen.
Insofern kann das Etikett „pfingstlich-charismatisch“ zur Beschreibung der christlichen Studentengruppen nur ein unzulängliches sein – zu unterschiedlich sind die Ansichten auch hier. Dennoch scheinen sie ein einheitliches Milieu zu bilden, das seine Gemeinsamkeit in einem bestimmten Schriftverständnis und einer spiritualistisch-charismatischen Ausrichtung findet. Der verbreitete politische Konservatismus ist zumindest auffällig – allerdings so lange ungefährlich, wie er Privatsache bleibt. Inwiefern sich das etablierte, landeskirchliche Christentum verändern wird, wenn die Theologiestudenten, denen man jetzt bei „Campus für Christus“ oder „Entschieden für Christus“ begegnet, in die Pfarrhäuser und Schulen einziehen, die Glückskinder von heute also die Glückskinder von morgen formen wollen, ist in keiner Weise absehbar.
von Kai Gräf
*Name von der Redaktion geändert