Umsonstladen, öffentliche Bücherregale und Foodsharing. Eine Tour durch die Heidelberger Umsonstökonomie.
Freitagmorgen, irgendwo im Gewerbegebiet zwischen Rohrbach und Kirchheim. Die Dämmerung verschwindet langsam und weicht einem trüben und verregneten Grau. In die triste Szenerie braust ein dunkler Kleinwagen. Für die Uhrzeit überraschend fidel springt Immanuel aus seinem Auto. Er kommt gerade vom Großmarkt in Mannheim, wo er Überschussware von Händlern abgeholt hat. An diesem Morgen sind es vor allem Mandarinen und Gurken. Dutzende Kisten stapeln sich bis unters Autodach. Oftmals hat nur eine Mandarine weiche Stellen, während der Rest einwandfrei ist. Das Aussortieren der schlechten Früchte würde für die Großhändler einen höheren finanziellen Aufwand darstellen, als sie Immanuel und seinen Kollegen von Foodsharing Heidelberg zu überlassen. „Eine Win-Win-Situation“, berichtet Immanuel, denn „selbst das Entsorgen kostet die Großhändler eine Stange Geld.“
Auch Nicoletta, die Vermittlerin zwischen lokalen Händlern und der Heidelberger Foodsharing-Gruppe, packt kräftig mit an. Sie freut sich, dass das kostenlose Angebot positiv von der Bevölkerung aufgenommen wird. Inzwischen gibt es auch in Neuenheim, Handschuhsheim, Kirchheim und der Südstadt weitere sogenannte „Fairteiler“. In Leimen sucht das Team gerade nach einem geeigneten Lagerort. Das Modell ist beliebt, davon zeugen auch die Mitgliederzahlen in den Facebook-Gruppen. Hier werden auch die genauen Standorte mitgeteilt und die Regeln von Foodsharing erklärt.
Was sich wie ein Nischenprojekt anhören mag, ist längst Teil eines neuen Verteilungsmodells. Die Umsonstökonomie versucht, die Prinzipien von Geben und Nehmen zu entkoppeln. „Das Einzigartige an diesem Modell ist der Gedanke, etwas ganz ohne Gegenleistung zu erhalten“, erklärt Dominic, der an diesem Tag eine Tour durch die Heidelberger Umsonstökonomie organisiert.
Der Spaziergang beginnt auf dem Wilhelmsplatz in der Weststadt. Hier, vor der Bonifatiuskirche im Herzen des Stadtteils, scheint das einzelne Bücherregal etwas verloren. Die Bücher, die im Regal stehen, könnten auch in jedem gutbürgerlichen Haushalt stehen. Von Tolkiens Herr der Ringe-Trilogie, über John Krakauers Himalaya-Drama In eisigen Höhen bis hin zu vergilbten Kochbüchern für Pfälzische Hausmannskost stehen knapp 400 Bücher durcheinander gemischt. Wer ein bisschen sucht, kann wahre Schätze finden – und umsonst mitnehmen.
Innerhalb weniger Minuten kommen Kinder, Rentner, Obdachlose und Studenten vorbei, stellen mitgebrachte Bücher ab, suchen literarische Leckerbissen, lesen neugierig Buchrücken und nehmen den ein oder anderen Fund mit. Die Idee öffentlicher Bücherregale hatte die Bürgerstiftung Heidelberg bereits Ende 2010 und errichtete in der Altstadt das erste Bücherregal. Schon damals berichtete der Vorsitzende Steffen Sigmund dem ruprecht von einer „überragenden Resonanz“ und freute sich, dass die Regale auch ein Treffpunkt seien, „an dem Menschen miteinander kommunizieren und über Bücher ins Gespräch kommen“. Daran hat sich fünf Jahre später nichts geändert.
Unweit davon entfernt, am Zähringer Platz, befindet sich die nächste Station. Essbares Heidelberg nennt sich die Urban Gardening Initiative, die hier eine Fläche pflegt. Derzeit befindet sich der Garten jedoch in einer Art Winterschlaf. Viele Beete sind aus Schutz vor dem Frost mit Tannenreisig abgedeckt, andere liegen brach. Einzig ein paar Zweige Salbei und Thymian trotzen dem regnerischen Grau. Nach den Prinzipien der Permakultur, einem Alternativmodell zur industriellen Landwirtschaft, ist der Garten so angelegt, dass sich das System mit wenig Pflegeaufwand möglichst selbst erhält und langfristig gute Erträge sicherstellt. Eine Planungs- und eine Gärtnergruppe teilen sich die anfallenden organisatorischen und gärtnerischen Aufgaben auf. Grundsätzlich kann allerdings jeder zu der Fläche kommen und (saisongerecht) Obst und Gemüse ernten.
Das Prinzip des Gebens ohne Gegenleistung lebt Ursula Hyder seit mehr als 20 Jahren. Vor ihrem Haus in der Kaiserstraße, das sie schon ihr Leben lang bewohnt, stapeln sich Kisten mit Besteck, Lampen und anderem Hausrat. Mehrmals wöchentlich zieht die 75-Jährige mit zwei ausrangierten Kinderwagen durch die Heidelberger Stadtteile und sammelt funktionstüchtige Gegenstände, die auf dem Sperrmüll gelandet sind. Mittlerweile bringen ihr zusätzlich viele Bekannte und Nachbarn Aussortiertes. Auch Lebensmittel erhält sie regelmäßig gespendet, sodass sie selbst kaum noch Geld ausgibt.
Stilsicher gekleidet und adrett frisiert erwartet Ursula Hyder die Besucher. Ihre kecken, wachen Augen, schrecken auch nicht davor zurück, an anderen Tagen den Stand mit einem Spiegel aus dem Obergeschoss zu beobachten. Sie kichert, lacht und holt immer wieder einzelne Stücke aus ihrem Fundus. Schlüsselerlebnis für ihr Engagement gegen die Wegwerfgesellschaft war eine Haushaltsauflösung 1957. Dabei kamen so viele wunderbare Dinge zu Tage, die sie nicht mitnehmen konnte. „Das soll nicht wieder passieren“, hat sie sich damals geschworen. Tränen steigen ihr in die Augen und die Zuhörenden erfasst eine Gänsehaut. Seit 1993 ist sie ihrem Wort nun treu geblieben.
So vielseitig wie das Sammelsurium, das einen vor ihrem Haus erwartet, sind auch die Anekdoten, die sie zum Besten gibt. Wie auf einer Bühne spielen sich ihre Geschichten an einem einzigen Schauplatz ab, fünf Quadratmeter vor ihrem Gartenzaun. Die Heidelbergerin erzählt vom Polizisten, der sie einmal skeptisch fragte: „Würden Sie selbst denn diese Mütze aufsetzen?“, worauf sie ihm lediglich trocken antwortete, dass es ein Kaffeewärmer sei. Sie berichtet von den zwölf zähen Tagen des Stillstands, als Beschwerden beim Ordnungsamt eingegangen waren. Als es endlich weiter gehen konnte, brachten Nachbarn Wein und Schokolade.
Frau Ursula ist die Seele der Straße. Niemand schämt sich, etwas mitzunehmen
„Frau Ursula ist die Seele der Straße“, sagt eine Anwohnerin, die zufällig vorbeikommt. „Kein Mensch schämt sich hier, etwas mitzunehmen.“ Mit kalten Füßen und warmen Herz ziehen wir weiter.
Nur ein paar Meter weiter, auf dem Weststadtmarkt, baut die Umsonstladen-Initiative Füa Umme jeden zweiten Samstag ihren Stand auf. Dieses Mal gibt es CDs, Deko, Schuhe und vor allem Bekleidung. In vielen deutschen Städten sind mittlerweile ähnliche Initiativen entstanden – auch Initiatorin Antje hat die Idee aus Berlin mitgebracht, wo sie bereits in einem Umsonstladen mitgewirkt hat. Einen richtigen Laden konnte die Heidelberger Gruppe bisher zwar noch nicht beziehen, doch stehen bereits einige Unterstützer als sogenannte Mietpaten für die Zahlung der aufkommenden Kosten bereit. Vor allem die hohen Mieten sind weiterhin eine Hürde, denn an dem Umsonstprinzip soll auch in Zukunft nichts geändert werden: Man kann nehmen, geben oder beides, es besteht keine Pflicht zum Ausgleich. „Für viele ist es schwer verständlich, dass es kostenlos ist. Die Leute haben das Bedürfnis, dafür zu zahlen“, stellt Mitorganisator Mike immer wieder fest. Aber nach einiger Zeit gewöhnten sich die Leute daran.
Für viele ist es schwer verständlich, dass es kostenlos ist
Ein kostenfreies Konzept verfolgt auch das Repair-Café, doch hier liegt der Fokus anders als beim Umsonstladen nicht auf funktionierendem Gebrauchten, sondern auf scheinbar Kaputtem. Egal, ob Kaffeemaschinen, T-Shirts oder Stehlampen, die ehrenamtlichen Reparateure versuchen, alles zu retten. Seit Frühjahr 2014 findet das Projekt viermal jährlich statt. Organisiert wird die Umsonstwerkstatt vom Verein Ökostadt Rhein-Neckar mit Unterstützung des BUND, Transition Town und dem Haus der Jugend. Neben dem Repair-Café fördert die Ökostadt Rhein-Neckar unter anderem nachhaltige Mobilität und Umweltbildung. Geschäftsführer Torsten Kliesch berichtet, dass oftmals über hundert Menschen mit kaputter Kleidung, defekten Elektrogeräten und Fahrrädern das Angebot, dessen Idee ürsprünglich aus Holland kommt, nutzen. Auch neugierige Schaulustige, die von der kommunikativen und gemütlichen Atmosphäre angezogen werden, schauen vorbei. „Uns besuchen viele Bürger, die sich klar von der heutigen Wegwerfgesellschaft distanzieren“ berichtet Kliesch.
Das Engagement gegen diese Verschwendung haben alle Heidelberger Initiativen gemeinsam. Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein stehen im Zentrum ihrer Motivation. Dabei sehen sich die Gruppen als Teil der Transition Town-Bewegung, eines weltweiten Netzwerks aus Initiativen mit dem Ziel, einen Wandel der Städte und Gemeinden zu einer Zukunft mit geringerem Energieverbrauch und größerer Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel in Gang zu setzen.
Von Gurken und Mandarinen kann man sich zwar nicht allein ernähren, aber schon ein Tag in Heidelbergs Umsonstökonomie hat unser Konsumbewusstsein sensibilisiert.
von Felix Hackenbruch und Margarete Over
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Umsonstökonomie in Heidelberg
Aus der global vernetzten Share Economy von Mitfahrgelegenheiten, Couchsurfing und airbnb ist mittlerweile eine milliardenschwere, florierende Wirtschaft geworden. In vielen deutschen Städten haben sich aber auch lokale Initiativen gebildet, die zeigen, dass es anders geht. Sie wählen den Weg der Umsonstökonomie und organisieren Plattformen und Orte, an denen Lebensmittel, Bekleidung oder Reparaturen ohne das Erwarten einer direkten Gegenleistung angeboten werden. In Heidelberg besteht mittlerweile ein umfassendes Netzwerk an Gruppen. Um diese Strukturen langfristig aufrecht zu erhalten, sind Interessierte, Mithelfer und Unterstützer stets willkommen. Ein unvollständiger Überblick über die lokalen Initiativen in Heidelberg:
Füa Umme – Umsonstladen Initiative Heidelberg: jeder erste und dritte Samstag im Monat auf dem Weststadtmarkt: www.umsonstladenheidelberg.wordpress.com
Transition Town Heidelberg: regelmäßige Treffen, montags 19 Uhr in der ZEP: www.transition-heidelberg.org
Essbares Heidelberg: www.essbaresheidelberg.wordpress.com
Ökostadt Rhein-Neckar: www.oekostadt.org
AK Real World Economics: www.real-world-economics.de
Foodsharing Heidelberg: Facebook-Gruppe „Foodsharing Heidelberg“ [/box]