Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn, über „Outsider Art“ und den Begriff der Kunst.
Anhand welcher Kriterien nehmen Sie heute Werke in die Sammlung auf?
Wöchentlich werden uns drei Werke angeboten. Aber wir nehmen nicht alle auf – die Bilder sollten einen Reflex zeigen von der psychischen Ausnahmeerfahrung der Schaffenden oder sich mit der gesellschaftlichen Reaktion darauf auseinandersetzen.
Welche Art der Auseinandersetzung meinen Sie? Was zeichnet die Kunst psychisch kranker Menschen aus?
Es gibt keine wiederkehrenden formalen oder inhaltlichen Elemente, die diese Kunst auszeichnen würden. Eine Gemeinsamkeit könnte allenfalls sein, dass viele Schaffenden wichtige Botschaften übermitteln wollen. Oft haben sie keine künstlerische Ausbildung, wollen aber dieses Medium dringend benutzen, weil sie ein Mitteilungsbedürfnis haben – daraus entsteht eine besondere Intensität. Es werden quasi Stoppschilder überfahren.
Die Kunst psychisch Kranker wird als „Art Brut“ oder „Outsider Art“ bezeichnet. Kritiker bemängeln, durch diese Kategorien stünden die Lebensumstände der Schaffenden im Vordergrund, nicht ihr Werk. Ist es nicht fragwürdig, unterschiedlichste Künstler in eine Gruppe zusammenzufassen, obwohl sie nichts weiter teilen als ihre Erkrankung?
Teile dieser Kritik sind sicher berechtigt. Es wird sogar vertreten, man könne den Begriff ganz aufgeben, man sei ja sowieso dabei, die Werke psychisch erkrankter Menschen in die Kunstszene zu integrieren. Aber meine Erfahrung ist, dass viele der Schaffenden ohne den Begriff der Outsider Art keine Chance hätten, in der Kunstszene anzukommen. Galeristen und Kuratoren brauchen ein Label, um Kunst an den Mann zu bringen. Und wenn sich nicht eine Institution wie die unsere darauf spezialisiert, solche Werke zu sammeln und zu präsentieren, von Leuten, die keinen künstlerischen Stammbaum haben, die nicht sagen können, „ich habe bei Baselitz studiert“, dann würden solche Werke gar nicht wahrgenommen – das ist eigenartig, aber so funktioniert die Kunstszene.
Sollte der Begriff der Kunst nicht losgelöst sein von solchen Marktstrategien?
So ist die Sicht des Publikums, das sich am liebsten mit den Inhalten beschäftigt. Aber Voraussetzung dafür ist doch, dass der Kunstbetrieb die Dinge aufnimmt – sonst haben Sie keine Chance, zu sehen, was Lieschen Müller in ihrem Zimmer schafft.
Und die Outsider Art ist auch noch bei weitem nicht in die Kunstszene integriert. Wenn Sie im herkömmlichen Kunstbetrieb Outsider Art sehen, wird sie gezeigt wie andere Kunst auch, sie wird einfach in dieselben Rahmen gepresst, wörtlich und metaphorisch gesprochen. Die Werke werden mit dem sonst üblichen Blickwinkel betrachtet und zu einer Art symbolischer Repräsentation verzerrt. Dabei wollen viele psychisch kranke Künstler keine symbolischen Abbildungen schaffen, keine Kunst im üblichen Sinne machen.
Warum werden sie dann kreativ tätig? Und können wir Arbeiten überhaupt als Kunst ansehen, wenn die Urheber gar keine Kunst schaffen wollen?
Viele Psychiatrieerfahrene wollen einfach mit ihrer Umgebung kommunizieren. Einige sind davon überzeugt, philosophische Aufzeichnungen zu machen, technische Erfindungen zu entwickeln oder mit ihren Bildern magisch ihre Umwelt zu beeinflussen. Da das für uns keinen praktischen Nutzen hat, haben wir Probleme, das einzuordnen. Der einzige Bereich, in den es zu passen scheint, ist die Kunst.
Ein wunderbares Beispiel ist die psychiatrieerfahrene Künstlerin Vanda Vieria-Schmidt. Sie zeichnet seit über zehn Jahren, mittlerweile auf über einer Million Blättern gegen böse Mächte an – das sieht aus wie Konzeptkunst, aber von dieser Kunstrichtung weiß Frau
Schmidt gar nichts. Sie möchte nur die Welt retten. Sie denkt, sie wäre das größte Medium der Welt und dass sie konkret und magisch Realität beeinflusst. Sie möchte nicht symbolisch den Wunsch nach Frieden repräsentieren. Genau als solche Repräsentation müssen wir ihr Werk aber bisher sehen, wenn wir es als Kunst betrachten wollen.
Dabei schaffen Outsider-Künstler in ihrer Vorstellungswelt gerade etwas, was die Mainstream-Kunst nicht schafft, nämlich aus dem goldenen Käfig der Repräsentation auszubrechen und irgendwie in die Realität einzugreifen. Seit der Moderne versuchen die akademischen Künstler das, etwa mit Fragmenten der Realität, wie bei Collagen, oder mit Performances. Beuys gründete sogar eine politische Partei – aber sie werden immer wieder in die Kunst zurückgeworfen, immer wieder in den Käfig der Museen eingesperrt. Das ist vielleicht ein Grund, warum auch von Seiten der Künstler so eine Faszination da ist für Outsider Art, weil diese es – irrational, in ihrem Denken – schafft, aus dem Kreislauf der Kunst auszubrechen.
Das Gespräch führte Vicky Otto