Vor 70 Jahren verschwindet die schlesische Metropole Breslau unter einem Trümmerfeld. Aus den Ruinen steigt das polnische Wrocław empor. Zwei Zeitzeugen erinnern sich.
Gerard Orlok hat sich in sein rotes Sofa zurückgelehnt. Während sich draußen der April mit einem kräftigen Gewitter verabschiedet, verschränkt er seine Arme, schlägt die Füße übereinander und denkt nach. Direkt über ihm hängt ein Foto des Breslauer Rathauses, es wacht über das Gesagte an diesem Nachmittag. Vor zwei Jahren ist Orlok aus dem Rheinland nach Berlin gezogen, um „noch einmal die Großstadt zu spüren“.
Geboren im Jahre 1929, wächst Gerard Orlok in Breslau, dem heutigen Wrocław auf, jener schlesischen Metropole, die über zwei Jahrhunderte eines der geistigen und kulturellen Zentren Preußens und des Deutschen Reichs war. 1938 zählt sie über 600 000 Einwohner und ist damit die viertgrößte Stadt in Deutschland. Ihre eindrucksvolle Altstadt mit den hochgebauten Patrizierhäusern und dem spätgotischen Rathaus, ihre barocken Palais und Villenvororte, machen sie zu einem der imposantesten Orte Mitteleuropas. Ihr Glanz kann sie allerdings nicht davor bewahren, dass sich Anfang der 30er Jahre eine nationalsozialistische Gesinnung ausbreitet; in nur wenigen anderen deutschen Städten fahren die Nazis so hohe Wahlergebnisse ein.
Schon im Herbst 1944 war Breslau zur „Festung“ erklärt worden
Vom Zweiten Weltkrieg ist Breslau lange nur indirekt betroffen, der im Volksmund getaufte „Luftschutzkeller des Reiches“ ist für die Alliierten Bomber auf dem Luftwege schwer zu erreichen. Im August 1944 erhält Gerard Orlok dann völlig unerwartet einen Einberufungsbefehl. Anfangs noch froh, dass der Schulunterricht ausfällt, muss er zusammen mit anderen Hitlerjungen in der Spätsommerhitze Panzer- und Schützengräben ausheben: „Es war eine irrsinnige Arbeit. Da merkten wir schon, jetzt geht’s uns ans Fell!“ Erst zum Weihnachtsfest kann er nach Hause zurückkehren und begegnet erstmals den „schier endlosen Flüchtlingstrecks, die auf die drohende Gefahr schließen“ lassen. Bereits im Herbst 1944 hatte Adolf Hitler das völlig unbefestigte Breslau zur „Festung“ erklärt, die Stadt durfte somit unter keinen Umständen kapitulieren.
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FOTOSTRECKE Kriegsende in Breslau
Im Sommer 1944 beginnt auch Jerzy Podlaks Breslauer Zeit, anfangs ist es keine gute. Podlak, Jahrgang 1931, stammt aus dem polnischen Posen, wird mit zwölf Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet und muss fortan das gelb-violette „Polenabzeichen“ tragen. Über Lager in Lodz, Augsburg und Dachau wird seine Familie nach Breslau geschickt, wo er zunächst als Hilfskraft in einem Krankenhaus arbeitet und Kartoffeln schält. Anfang 1945 kommt die Familie in verschiedenen Zwangsarbeiterlagern unter, dort leben sie zusammen mit mehr als 9 000 anderen Sklavenarbeitern. „Wir hatten keine Betten, keine Matratzen, wir hatten Nichts“, beschreibt er die unmenschliche Behausung. Jerzy Podlak spricht sehr langsam, das Deutsch fällt ihm merklich schwer, es ist die Sprache, die er erlernen musste, um unter den Nazis zu überleben.
Am 12. Januar 1945 startet die Rote Armee ihre Großoffensive, in nur wenigen Tagen bricht die gesamte Ostfront zusammen. Eine Woche später befiehlt Niederschlesiens Gauleiter Karl Hanke die Evakuierung Breslaus. Ein ungeheures Chaos bricht aus, 600 000 schlesische Flüchtlinge befinden sich zu diesem Zeitpunkt in der Stadt, sie müssen bei minus 15 Grad den Weg in Richtung Westen antreten. Am 12. Februar schließt sich endgültig der Festungsring: 200 000 Zivilisten sind nun noch in Breslau, darunter Zehntausende Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Einer von ihnen ist Jerzy Podlak. Er wird im Februar zu Räumungsarbeiten eingesetzt. Jeden Tag muss er nun seine Arbeitskarte stempeln lassen, wer drei Tage infolge keinen gültigen Stempel vorzeigen konnte, wird umgehend vor ein Standgericht gestellt und erschossen. Das Terrorsystem funktioniert bis zum letzten Kriegstag. In den letzten Wochen des Krieges wird er in ein Leichenkommando eingeteilt: „Zu zweit oder zu viert, haben wir Leichen aus Trümmerhaufen gehoben und in einen Wagen gelegt. Es war eine schreckliche Arbeit.“
Ende Februar kann der notdürftig zusammengestellte Festungstrupp aus Volkssturmmännern und Hitlerjungen die sowjetischen Truppen vorerst zum Stehen bringen. Noch ist die Stadt weitgehend unzerstört, die Festungsführung allerdings weigert sich, zu kapitulieren und was die nächsten drei Monate folgt, ist ein erbitterter Häuserkampf. Dabei verwüsten die Deutschen die Stadt zunächst selbst: Um freies Schussfeld zu erhalten, setzen sie zahlreiche Häuser in Brand. Höhepunkt dieser sinnlosen Zerstörung ist der Bau einer Rollbahn mitten durch das Stadtzentrum; um die Luftversorgung der Festung zu sichern, wird das gesamte Universitätsviertel entlang der Kaiserstraße ausgebrannt und abgerissen. Tausende von Zwangsarbeitern und Breslauer Bürger sind der sowjetischen Artillerie und Tieffliegern schutzlos ausgesetzt. Auch Gerard Orlok muss dort für wenige Tage Dienst verrichten: „Die Straße war nur noch eine komplette Wüste. Ständig kamen Bomber und wir mussten in die Keller flüchten.“ Nach wenigen Tagen wird Orlok abkommandiert und soll in den folgenden Wochen als Melder arbeiten. Allein auf der Rollbahn kommen 12 000 Menschen zu Tode, kein einziges Flugzeug wird jemals von ihr starten.
Als letzte große deutsche Stadt kapitulierte Breslau am 6. Mai 1945
Seine Arbeit als Melder übt Orlok nur 14 Tage aus, anschließend wird er in ein Priesterseminar im Norden der Stadt verlegt, wo er für den Häuserkampf ausgebildet werden soll. „Das war ein großes Glück“, wie er heute sagt, fanden die Kampfhandlungen doch am anderen Ende der Stadt statt. Aus der trügerischen Ferne muss er aber miterleben, wie am Osterwochenende hunderte sowjetische Flugzeuge das gesamte Zentrum bombardieren und ein Feuersturm durch die historische Altstadt fegt. Ein weiteres „Glück“ rettet Orlok womöglich das Leben: Ende April muss seine Kompanie im Süden, nur wenige Meter von der Kampflinie entfernt, den Häuserkampf in Ruinen üben. Dort zieht er sich eine Kopfverletzung zu, die ihn das Kriegsende im Lazarett erleben lässt. Als letzte große deutsche Stadt kapituliert Breslau am 6. Mai 1945.
„Dieser Tag war eine große Freude“, blickt Jerzy Podlak heute auf das Kriegsende zurück. „Die Polen, Franzosen, Italiener, Russen, Ukrainer im Lager haben getanzt, sich geküsst.“ Das Gefühl einer Befreiung verspürte Gerard Orlok damals nicht: „Ich hab vor allem gedacht, Hauptsache jetzt ist Schluss.“ Nur für kurze Zeit gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, als er das erste Mal wieder durch die Breslauer Innenstadt läuft, verliert er vor lauter Zerstörung die Orientierung: mehr als 70 Prozent der Stadt ist zerstört. Viele noch intakte Gebäude zünden die Sowjets in den ersten Tagen nach dem Krieg selbst an, Plünderer durchziehen die Straßen, Rotarmisten vergewaltigen Frauen. Von der einst reichen schlesischen Metropole ist nur noch eine Welt von Granattrichtern und Schuttbergen übriggeblieben.
Bereits am 9. Mai erreicht ein Vorauskommando der künftigen polnischen Stadtverwaltung die Oderstadt. Obwohl über das weitere Schicksal Breslaus noch nicht entschieden ist, wird schon jetzt damit begonnen, die deutsche Vergangenheit auszulöschen: Die Stadt erhält den slawischen Namen „Wrocław“, deutsche Straßennamen werden getilgt, deutsche Inschriften übermalt. Jerzy Podlak: „Wir bekamen Farbtopf und Pinsel in die Hand und wurden losgeschickt.“ Durch Zufall übergibt ein deutscher Pfarrer seiner Familie seine Villa. Wie viele andere Polen auch, ziehen sie in ein Haus ein, in dem über Jahrzehnte deutsche Bewohner lebten.
„Uns war allen klar, dass wir so schnell nicht wiederkommen werden.“
Denn auch trotz der unsicheren politischen Lage über den weiteren Verbleib Schlesiens im Mai kommen sie aus dem ganzen Land an die Oder. Die Großen Drei fällen auf der Potsdamer Konferenz im Sommer ihre schwerwiegenden Entscheidungen über die Westverschiebung Polens und die Vertreibung Millionen Deutscher. Und doch: „Wir hatten bis Ende des Jahres noch die Hoffnung, dass Breslau deutsch bleiben würde“, meint Gerard Orlok, schließlich sind bis zum Jahreswechsel noch fünfmal so viel Deutsche wie Polen in der Stadt. Doch die Verhältnisse haben sich geändert: Nun müssen die Deutschen als Zwangsarbeiter Trümmer wegräumen, einige Polen üben grausame Rache und verschleppen die einst stolzen Bewohner der Stadt. „Wir wollten nicht mit den Polen leben. Wir hatten Sorgen, dass wir von ihnen ausgenommen und unterdrückt werden, so wie wir es vorher mit ihnen gemacht hatten“, gibt Orlok zu. Am 30. April 1946 erfolgt dann die Ausweisung seiner Familie: „Uns war allen klar, dass wir so schnell nicht wiederkommen werden.“ Nach einer unsteten Reise in den Westen wird Orlok erst nach Jahren in Duisburg sesshaft. Zwar besucht er manchmal Treffen des örtlichen Schlesierverbandes, doch von revanchistischen Sehnsuchtsgefühlen hat er sich schon schnell verabschiedet – „das Ding war gelaufen.“ 1987 kommt er erstmals in die alte Heimat zurück, durch seinen Umzug nach Berlin ist er nun häufiger hier.
Jerzy Podlak holt nach dem Krieg das Gymnasium nach, studiert anschließend an der Technischen Universität und wird Ingenieur. Breslau ist bis heute sein Zuhause. „Lange haben wir geglaubt, dass die Deutschen irgendwann zurückkommen werden.“ Doch die Deutschen kommen nicht zurück, stattdessen tilgt die Stadtverwaltung beim Wiederaufbau die vermeintlich letzten deutschen Überreste. Podlak selbst verspürt nie einen Hass gegenüber seinen ehemaligen Peinigern, stattdessen pflegt er schon bald regelmäßig Kontakte mit Deutschen.
Erst mit der Zeitenwende 1989 ändert sich auch langsam Breslaus Einstellung zu seiner eigenen Vergangenheit. Alte deutsche Inschriften werden wieder gepflegt, zahlreiche Bücher über die deutsche Geschichte herausgegeben und auch die junge Stadtbevölkerung versucht sich mit den lange verschwiegenen Spuren auseinanderzusetzen. So sind nach 70 Jahren längst die letzten Trümmer entfernt, doch erst jetzt werden die deutschen Wurzeln in der polnischen Stadt wieder freigelegt.
von Michael Graupner