Der Fall „Henri“ in der Talksendung „Günther Jauch“ löste eine gesellschaftliche Debatte aus. Seit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen haben Eltern die Wahl zwischen Sonder- und Regelschule. Utopie von Gleichberechtigung oder Weg zu einer gerechteren Gesellschaft? Der Schulleiter Kurt Gredel erklärt seine Argumente für Inklusion.
Wie ist die UN-Behinderten-Konvention für Deutschland zu deuten? Die Pädagogik für Sonderschulen ist noch nicht so alt, wie es manche Schulgebäude vermuten lassen. Auch aus den unleidlichen, teilweise noch nicht endgültig aufgearbeiteten Erfahrungen mit der NS-Zeit heraus, war die Forderung nach Beschulung von behinderten Kindern und Jugendlichen einer der zentralen Aspekte in der Politik der 1950er und 1960er Jahre. Die Integration der Schülerinnen und Schüler in die Gesellschaft stand in Schulen für Behinderte und in Bildungs- und Lehrplänen an erster Stelle: Die Schülerinnen und Schüler bewegen, sich in den kommunikativen Strukturen, die ihnen möglich sind, in der Gesellschaft zurechtzufinden, Beziehungen aufzubauen, ja überhaupt in allen Feldern der Gesellschaft Begegnungen zu ermöglichen, das waren schon immer Ziele in der Sonderpädagogik. Behinderte Schülerinnen und Schüler, die von ihren Leistungsfähigkeiten dem Stoff der allgemeinen Schule folgen konnten, gehörten von Anfang an in die allgemeine Schule mit Unterstützung ausgebildeter Sonderpädagogen.
In den letzten 25 Jahren entwickelten sich kooperative Formen der Begegnung, etwa in Arbeitsgemeinschaften, Außenklassen sowie im Freizeitbereich. All dies entstand, weil Eltern mit ihren Forderungen nicht nachgelassen haben und weil Schulen, Schulträger und die Schulverwaltung dies möglich machten. Ein bewährtes System, das viele Schulabschlüsse, aber auch Freundschaften ermöglicht hat. Was wird sich unter dem Druck der Behindertenrechtskonvention der UN ändern? In Baden-Württemberg werden Eltern mit dem neuen Schulgesetz einen grundsätzlichen Anspruch und Wahlfreiheit in Bezug auf das System der allgemeinen Schule oder der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren haben. Zieldifferenter Unterricht und zieldifferente Leistungsziele sind möglich und angesagt. Der Gesetzgeber denkt verstärkt an gruppenbezogene Lösungen, das heißt, dass Schülerinnen und Schüler verschiedener Behinderungsarten in den Klassen der allgemeinen Schule mit inkludiert sind. Alle Schulen sollen sich an dieser Inklusion beteiligen – die Sekundarstufe II (zum Beispiel die Oberstufe des Gymnasiums) ist aber ausgenommen. Ich begrüße, dass es ein solches Gesetz geben wird, denn es beinhaltet Wahlfreiheit für alle Eltern – auch für diejenigen, die sich weiterhin für die Beschulung in einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum entscheiden werden. Diese sollen und dürfen sich nicht als „Eltern zweiter Klasse“ fühlen. Toll ist auch, dass es die „Inklusion umgekehrt“ geben wird. Wir als Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum können Klassen, Schülerinnen und Schüler aus der allgemeinen Schule bei uns aufnehmen und integrieren. Gerade für diejenigen mit komplexeren Behinderungen bietet diese Inklusion optimale Voraussetzungen, da Know-How, das Umfeld, sowie Lehr- und Lernmittel erhalten bleiben.
Andererseits fällt Inklusion nicht vom Himmel, sondern bedeutet gerade in den Anfängen einen erheblichen finanziellen Aufwand. Doppelbesetzungen der Lehrerinnen und Lehrer müssen ermöglicht werden. Darüber hinaus werden bauliche Veränderungen notwendig sein; Voraussetzungen sind Barrierefreiheit, Möglichkeiten für den Bereich der Pflege und der medizinischen Behandlungspflege, Aufzüge und der Fahrtransport. Neben den personellen und sachlichen Ressourcen ist eine enge Zusammenarbeit zwischen allgemeinen Schulen und Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren essentiell. Was nicht passieren darf, ist, dass Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren wegen Schülermangel geschlossen werden bis in zehn Jahren ein Ruf nach Erweiterung des Systems erfolgt (ich verweise hier auf das Bundesland Bremen). Auch dürfen Schülerinnen und Schüler mit komplexen Behinderungen nicht für bildungsunfähig oder schulunfähig erklärt werden. Dies wäre ein Rückschritt gegenüber dem, was wir jetzt schon in Baden-Württemberg haben.
Ja, ich spreche und bin für Inklusion behinderter Schülerinnen und Schüler in die allgemeine Schule und auch umgekehrt. Gleichzeitig ist Inklusion nicht der „allein seligmachende Weg“. Die allgemeinen Schulen und auch die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren sind weiterhin nötig.
Ja, ich spreche auch für Inklusion Kranker, zum Beispiel psychisch Kranker sowie älterer Menschen, Migranten und Flüchtlinge in ihren jeweiligen Systemen, in unserer humanitären und demokratischen Gesellschaft! Inklusion ist in allen Bereichen notwendig!