Eine neue Ausstellung der Prinzhorn-Sammlung beleuchtet, wie Kunst psychisch erkrankter Menschen die Surrealisten beeindruckte.
Die inhaltliche Nähe der Ausstellungsstücke zur psychischen Kondition der Künstler nimmt zu, je tiefer sich der Betrachter in die verwinkelten Räumlichkeiten der Prinzhorn-Sammlung hineinbegibt. So fallen bei einer ersten Reihe von Bildern nur leichte Abweichungen von der Norm auf. Ist dem in Uniform portraitierten Preußen der obligatorische Schnauzbart nicht leicht verrutscht? Dem folgen Werke, in denen die Schaffenden ihre eigenen Innenleben bildlich thematisieren. Ein von Wurmlöchern durchzogenes Hirn wird aufgedeckt, in einem Gewirr aus Radiowellen verliert sich eine vereinzelte Gestalt. Im Obergeschoss schließlich kulminiert die Schau in Darstellungen unheimlicher Wahrnehmungen. Eine göttliche Botschaft offenbart sich im durch Schweiß gezeichneten Muster einer Schuheinlegesohle.
Die eigenwilligen Arbeiten stammen von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen. „Das Wunder in der Schuheinlegesohle“ empfing in Berlin über 24 000 Besucher, seit 29. April ist die Ausstellung in der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung zu sehen. Die Kuratorin Kyllikki Zacharias hat mit dem rekonstruierten Blick eines Surrealisten 120 Werke aus der Sammlung Prinzhorn ausgewählt, die zwischen 1890 und 1930 geschaffen wurden. Schon Surrealisten des frühen 20. Jahrhunderts wie Marcel Duchamp oder Max Ernst hätten die Bilder also betrachten können. Doch was interessierte die Surrealisten an der Kunst psychisch erkrankter Menschen? Dieser Frage geht die Ausstellung nach.
Die weltweit bekannte Sammlung Prinzhorn wurde geprägt durch den Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn, der an der Universitätsklinik Heidelberg ab 1919 „psychopathologische Kunst“ zusammentrug. Die Arbeiten von zehn „schizophrenen Meistern“ stellte er in seinem erstmals 1921 erschienenen Bildband „Bildnerei der Geisteskranken“ vor, der für viele etablierte Künstler, besonders für die Surrealisten, ein Referenzwerk darstellte.
Die Surrealisten sahen, auch wegen der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, die verstandesbestimmte Welt als gescheitert an. In Abkehr von einer als übermäßig empfundenen Rationalität wollten sie Unbewusstes und Traumhaftes in ihren Arbeiten zur Geltung bringen. Dabei war ihnen auch das Schaffen psychisch Erkrankter eine Inspiration. So ahmten sie die in deren Werken vorgefundenen Techniken nach – wie die sogenannte Écriture automatique, gedankenverlorenes Kritzeln oder das Aneinanderreihen von Worten, das meditativ wirken und unbewussten gestalterischen Kräften zur Entfaltung verhelfen sollte.
Wie seine surrealistischen Zeitgenossen wandte sich auch Prinzhorn gegen die akademische Hochkunst. Doch alles Streben der Surrealisten nach einer Aufwertung von Unterbewusstsein, Traum und Rausch war für ihn bloß „rationale Ersatzkonstruktion“, weil stets auf bewussten Entscheidungen basierend. „Prinzhorn empfahl, dass man sich an der Authentizität der Werke von psychiatrieerfahrenen Menschen orientieren sollte für einen Neubeginn der Kunst“, fasst Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn, die Sicht Prinzhorns zusammen.
Weit davon entfernt, eine beklemmende Stimmung zu erzeugen, vermittelt die Sammlung, wie Kunst für Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen ein Ventil und mitunter gar ein therapeutisches Mittel sein kann. So stellt das Museum einen einzigartig unbefangenen Umgang mit Kreativität vor und hilft dem Betrachter, eigene Befangenheit und Berührungsängste mit der Thematik psychischer Erkrankungen abzubauen.
von Vicky Otto
[box type=“shadow“ ]Die Sammlung Prinzhorn umfasst 16 000 Werke, ihr historischer Bestand reicht bis ins Jahr 1840 zurück. Für Studierende sind Eintritt ins Museum und Mitgliedschaft im Förderverein kostenlos.
Ein Interview mit Thomas Röske, dem Leiter der Sammlung Prinzhorn, findet ihr hier.[/box]