Alternativlose Forschungsmethode oder Tierquälerei: Der Fall um Nikos Logothetis’ Affenforschung heizt die Tierversuchsdebatte neu an. Auch in Heidelberg sorgt das Thema für Kontroversen.
Bei vielen Krankheiten müssen wir verstehen, wie verschiedene Organe eines Organismus interagieren, was die Forschung an ganzen Tieren weiterhin unerlässlich macht“, heißt es in einem offenen Brief, in dem 16 Nobelpreisträger vor einem Ausstieg aus der tierexperimentellen Forschung warnen. Der Hintergrund: Ende April kündigte der Tübinger Neurowissenschaftler Nikos Logothetis an, seine Forschung an Primaten nach 18 Jahren zu beenden.
Ein Fernsehbericht zeigte Aufnahmen von Affen aus Logothetis’ Abteilung am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. Die Tiere hatten Elektroden im Kopf und teilweise offene Wunden. Nach monatelangen Protesten von Tierschützern und sogar Morddrohungen gegen Logothetis, beschloss der Forscher, künftig nur noch mit Nagetieren zu arbeiten.
Die Debatte ist damit jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Während rund 5000 Wissenschaftler in den letzten Wochen den Aufruf zur Solidarität des Werner Reichardt Zentrums für Integrative Neurowissenschaft unterzeichneten, forderte die Bürgerinitiative „Stop Vivisection“ vor dem Europäischen Parlament die Aufhebung der geltenden „Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere“ und ein Ende aller Tierversuche. Unterstützt wurde die Initiative von rund 1,2 Millionen Unterschriften.
In Deutschland gibt es genug Gremien, die den Schutz der Tiere gewährleisten
Auch wenn die EU-Kommission das geforderte vollständige Verbot von Forschungsarbeiten mit Tieren ablehnt, wird das Thema Tierversuche nicht nur in Tübingen kontrovers diskutiert.
Im Heidelberger Zoo haben wir mit Vanessa Schmitt gesprochen, die dort Kognitionsforschung mit Affen betreibt. Seit ihrem Studium der Verhaltensbiologie in Kaiserslautern und Göttingen erforscht sie die Intelligenz von Tier- und Menschenaffen. Konkret bedeutet das, dass die Tiere mit Aufgaben betraut werden, wie sie aus der entwicklungspsychologischen Forschung mit kleinen Kindern bekannt sind.
Schmitt zeigt uns Videos von ihrer Arbeit: Den Affen werden zwei Schalen mit Zuckerkugeln gezeigt. Das Tier erhält diejenige, auf die es zeigt. Affen sind ebenso wie Krähen oder Raben dazu in der Lage, die Schale mit der größeren Menge an Zuckerkugeln auszuwählen. Bei solchen Experimenten testen die Forscher soziale und physikalische Kognition der Affen. „Die Tiere werden zu nichts gezwungen. Wenn die Affen nicht aus dem Käfig kommen wollen, dann gehen wir eben wieder“, betont Schmitt.
Wie steht die Forscherin zu den Entwicklungen in Tübingen? Logothetis’ Entscheidung findet sie nachvollziehbar, aber „heftig für die Forschung“. Aktuell arbeitet Schmitt mit Touchscreens, an denen die Affen verschiedene Aufgaben lösen und dabei den menschlichen Smartphone-Benutzern auf der anderen Seite des Käfigs verblüffend ähnlich sehen. Proteste gegen ihre Arbeit, die überwiegend auf Verhaltensbeobachtungen beruht, hat sie demnach noch nicht erlebt. Dennoch hält sie Tierversuche für gerechtfertigt, „wenn man das Ziel hat, die Krankheitsgeschichte des Menschen zu verbessern.“ Auf die Frage, für wie wichtig sie dieses Ziel hält, antwortet sie ausweichend: „Für mich persönlich kommen invasive Tierversuche nicht infrage.“ Etwa in der Alzheimer-Forschung gebe es jedoch für solche Versuche mit Affen keine Alternativen.
Laut Rainer Nobiling bleiben auch im Herz-Kreislauf-Bereich invasive Tierversuche unverzichtbar. Der langjährige Tierschutzbeauftragte der Universität Heidelberg hat in diesem Bereich lange geforscht. Seiner Ansicht nach wäre die Operation am stehenden Herzen ohne Tierversuche so nicht möglich gewesen. Nach 20 Jahren und 480 Hunden war die Methode klinikreif. Kleine Optimierungsschritte wurden dann am Patienten vollzogen.
Seitdem profitieren in Deutschland jährlich 10.000 Menschen von dieser Methode. Für Tierschützer ist dieses Ergebnis keine Rechtfertigung für Tierversuche. Der Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ findet etwa: „Dieses Verfahren hätte auch ohne Tierversuche, zum Beispiel mit größter Vorsicht am schwerstkranken Patienten, für den die Chirurgie eine letzte Chance ist, entwickelt werden können.“
Dass Tierversuche nicht so unverzichtbar sind wie häufig angenommen, meint auch Jens Tuider, der in Mannheim im Fach Philosophie promoviert und in Heidelberg zusammen mit der interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft Tierethik eine öffentliche Vortragsreihe organisiert. „Wir wären heute nicht so weit ohne Tierversuche. Aber vielleicht wären wir schon weiter, wenn wir sie früher durch Alternativen ersetzt hätten.“ Dazu kommt, dass die Erkenntnisse, die im Tiermodell gewonnen wurden, oft nicht zu hundert Prozent auf den Menschen übertragbar sind. Immer bessere Alternativmethoden wie dreidimensionale Zellkulturen, Systemmodellierungen oder Multiorganchips werfen die Frage auf, ob Tierversuche wirklich so unverzichtbar sind.
Vanessa Schmitt ist sich zumindest sicher, dass es in Deutschland genug Gremien gibt, die den Schutz der Tiere gewährleisten und sicherstellen, dass die Tiere so wenig wie möglich leiden müssen. Bestraft werden die Affen im Heidelberger Zoo nicht. „Die Tiere haben nie Durst oder Hunger. Dadurch ist zwar vieles schwieriger, aber mir ist es wichtiger, dass die Tiere nicht unter Stress stehen“, erklärt sie. Stattdessen arbeitet sie mit positiver Verstärkung. Tierversuche sind für sie ein Kompromiss. „Auf der einen Seite stehen die Erkenntnismöglichkeiten für die Menschheit und die Medizin, auf der anderen Seite stehen natürlich die Effekte für die Tiere“, sagt Schmitt.
Dieselbe Logik steht hinter der ethischen Einschätzung jedes Tierversuchsantrages. Die Kommission, die sich mit dem Forschungsstandort Heidelberg beschäftigt, besteht aus Vertretern der Universität Heidelberg, des Deutschen Krebsforschungszentrums und des Karlsruher Instituts für Technologie, zwei Vertretern von zugelassenen Tierschutzverbänden und einem Vertreter aus der Pharmaforschung.
Jeder Tierversuchsantrag muss streng regulierte Voraussetzungen erfüllen: Die wissenschaftliche Begründung des Projekts, eine Darstellung, warum ein Tierversuch in diesem Projekt ein unerlässliches methodisches Hilfsmittel darstellt sowie ein Projektplan, gehören dazu. „Auf die eine Seite packt man die Be-lastung der Tiere, auf die andere Seite den wissenschaftlichen oder medizinischen Nutzen für Forschung und Patienten“, meint Nobiling.
Die Kommission hat zwar nur eine beratende Funktion für die Genehmigungsbehörde. Allerdings werden Anträge, die die Kommission für ethisch nicht vertretbar hält, abgewiesen. „Solche Anträge sollten schon am Tierschutzbeauftragten scheitern und die Behörde gar nicht erst erreichen“, betont Nobiling. Ihm zufolge sind die Regeln für gute wissenschaftliche Praxis an der Universität Heidelberg sogar strenger als vom Tierschutzgesetz vorgegeben. Beispielsweise werden Versuchsunterlagen deutlich länger aufbewahrt als gesetzlich vorgeschrieben. In Heidelberg hat die Anzahl der Versuchstiere in den letzten Jahren abgenommen. Das schließt Nagetiere, Hunde oder eben Affen mit ein und reflektiert den gesamtdeutschen Trend.
Auch wenn nur einige Tiere sterben müssten, um vielen Menschen das Leben zu retten, wären dann Tierversuche gerechtfertigt? „Bei uns in Europa gilt eine Kantsche Tradition, die nicht verrechnet“, findet Tuider, weswegen er eine einfache Aufrechnung von Menschenleben gegen Tierleben kritisch sieht. Er geht sogar soweit, das allgemeine Recht auf Gesundheit infrage zu stellen, schließlich wäre die Wissenschaft nicht dazu verpflichtet, der Menschheit das ewige Leben zu ermöglichen. Im Bezug auf Tierversuche findet er vor allem wichtig, „einen konstruktiven wissenschaftlichen Dialog darüber anzuregen. Das funktioniert nur auf Grundlage eines Austauschs, der nicht auf Emotionen, sondern auf gegenseitigem Respekt, Achtung und Argumenten basiert.“
Medizinische Verfahren könnten an schwerstkranken Menschen entwickelt werden
Auch Schmitt betont die Bedeutung von Transparenz im Zusammenhang mit Tierversuchen. Die Wissenschaftlerin forschte zuvor am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen. „In Göttingen findet auch neurobiologische Forschung an Primaten statt, aber dank der transparenten und aktiven Öffentlichkeitsarbeit habe ich persönlich nie Proteste dort erlebt“, sagt sie. Von den 1500 Primaten wurden vielleicht mit dreien Experimente mit Elektroden gemacht. „Diese Tiere werden jahrelang trainiert und lösen hochkomplexe Aufgaben. Dadurch sind sie für den Forscher sehr wertvoll“, erklärt Schmitt. Allein deshalb sei das Wohlergehen der Tiere im Sinne der Wissenschaftler. Auch Nobiling geht davon aus, dass Tierversuche nicht als Selbstzweck, sondern als methodisches Hilfsmittel zur Erzielung valider Ergebnisse eingesetzt werden.
Die öffentliche Debatte über Tierversuche, die nach den Vorfällen in Tübingen neu aufgeflammt ist, beschreibt Tuider als oftmals wenig sachlich und stark emotionalisiert. „Auf der einen Seite werden Wissenschaftler als Mörder und Tierquäler diskreditiert, auf der anderen Seite Tierschützer als verrückte Spinner abgetan. Feindbilder werden aufgebaut.“ Die persönlichen Anfeindungen und Bedrohungen, denen Logotehtis ausgesetzt war, haben Tuider wütend gemacht: „Es zieht das Image derjenigen massiv in Mitleidenschaft, die sich wie ich dafür einsetzen, dass Tiere weniger leiden müssen.“
Auf den Antrag der Bürgerinitiative „Stop Vivisection“ erklärte die EU-Kommission am 3. Juni, das EU-Recht laufe letztlich darauf hinaus, Tierversuche abzuschaffen. Angesichts der Wissenslücken in Bezug auf alternative Methoden sei ein vollständiges Verbot aktuell jedoch verfrüht. Die Kommission verweist stattdessen auf das geltende EU-Recht: Tierversuche seien zu vermeiden, zu verringern und zu verbessern.
von Janina Schumacher und Monika Witzenberger
[box type=“shadow“ ]Tierschutzgesetz in Deutschland
Im Rahmen des Tierschutzgesetzes, welches in der aktuellen Form am 5. August 2014 in Kraft getreten ist, ist die „Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen ist“ niedergeschrieben. In §1 wird der Grundsatz, dass „niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schaden zufügen“ darf, festgelegt. Die §§2 und 3 beschäftigen sich mit der Haltung und Nutzung von Tieren. Tierversuche werden in §7 definiert, was zum Beispiel das Töten eines Tieres nicht als Tierversuch bezeichnet, wenn es ausschließlich erfolgt, um dessen Organe oder Gewebe für wissenschaftliche Zwecke zu nutzen. Darüber hinaus dürfen Tierversuche nur durchgeführt werden, soweit sie „unerlässlich“ sind. Des Weiteren definieren §8 das Genehmigungsprozedere und §9 die personale Voraussetzung für Tierversuche.[/box]
Bevor ich was kaufe informiere ich mich immer ob Tierversuche dahinter stecken oder nicht. Und kaufe auch kaum spontan. Aber leider kann man sich nicht immer sicher sein. Es sollen keine Tiere mehr leiden.