Nur wenige Studierende wohnen im Emmertsgrund. Die Vorurteile gegenüber der Hochhaussiedlung halten an.
Kühe grasen in der Morgensonne zwischen Apfelbäumen auf der sattgrünen Wiese, rundherum erstreckt sich ein dichter Wald. Wer mit der Buslinie 39 den Gaisberg hinauffährt, kommt in den Genuss des ländlichen Idylls am Rande Heidelbergs. Es ist zwar nicht der kürzeste Weg, dennoch gelangt man einige Minuten später in den Emmertsgrund. Leben im Grünen, ein Vorzeigestadtteil für junge Familien – mit diesem Ziel wurde einst auch der Emmertsgrund von Planern auf dem Reißbrett entworfen. Doch das wissen die wenigsten, denn heute überwiegen vor allem die Vorurteile gegenüber den Bezirken Emmertsgrund und dem angrenzenden Boxberg. Im 13. Stock eines der Häuserblocks wohnen Sarah, Hannah, Steffi, Jakob, Alex und Julian. Bei frischen Pfannkuchen erzählen sie von ihrer für Heidelberger Verhältnisse eher untypischen Wohnlage, Legionellen und roten Karten für die Mitbewohner.
Der Kern der WG kennt sich seit einem Freiwilligendienst in Israel. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland suchten sie gemeinsam eine Bleibe in Heidelberg und sind dabei eher durch Zufall an die Wohnung im Emmertsgrund gekommen. Nun ist es aber durchaus die Wohnlage, die den Alltag bestimmt. Das WG-Leben findet meist frühmorgens oder spätabends statt. Schließlich verbringen die Studierenden den Großteil des Tages „unten“, wie der Stadtkern aus Hangperspektive heißt – es dauert schlicht zu lang, zwischendurch hinaufzufahren.
Die selbst installierte Küche in dem 40 Jahre alten Gebäude macht der WG seit jeher zu schaffen. „Es liegt ein Fluch auf der Küche im 13. Stock“, scherzen Sarah und Steffi. Der Boden wellt sich, Renovierungsarbeiten konnten mehrfache Wasserschäden nicht vermeiden. Ein dubioser Brief verkündete vor einigen Monaten ein Duschverbot – Legionellen hatten sich in den alten Leitungen angesiedelt. An einen Auszug haben sie in all den Jahren jedoch nie gedacht.
Trotz allerlei Widrigkeiten finden die Studierenden immer wieder Zeit für einander. Wird es einmal schwer, alle zu versammeln, können die Mitbewohner die rote Karte ziehen: Damit kann jeder einmal im Semester die ganze WG zusammentrommeln und nach Belieben abendliche Balkonstunden und nächtliche Ausflüge veranlassen.
Einige Jahre und mehrere Mitbewohnerwechsel nach Gründung der WG erinnert eigentlich nur noch das Jerusalem-Kochbuch an die gemeinsame Vergangenheit, dafür teilen die Bewohner heute ihre Abneigung gegenüber den immer gleichen Emmertsgrund-Vorurteilen. „Wir wollen hier zwar nichts idealisieren“, betont Steffi. Auch wenn man wahrlich nicht behaupten kann, dass das einstige Stadtplanungsziel erreicht wurde, gefährlich sei es hier ganz sicher nicht. Dass sich die Vorurteile so hartnäckig halten, liege vor allem daran, dass viele von denen, die ihre Bedenken äußerten, ohnehin nie vor Ort gewesen seien, ärgern sich Steffi und Jakob. Kriminalität und Ghetto sind die ersten Schlagwörter, die Google bei der Suche nach dem Stadtteil vorschlägt. Selbst Stadtteil-Exkursionen für Geographie-Studierende würden nicht ausreichend reflektiert die Entwicklung des Stadtteils betrachten und verfestigen bei den Menschen „unten“ das Bild eines gescheiterten Stadtteils, erklärt Sarah.
Ein ganz anderes Bild erleben die Studierenden jedoch im Alltag. „Der Emmertsgrund ist wahrscheinlich der Stadtteil mit der größten Bürgerpartizipation“, schwärmt Steffi. Ein engagiertes Stadtteilmanagement sorgt für ein breites Angebot, um mit den Bewohnern das Stadtteilleben zu gestalten, von Montagskino bis Literaturkreis. Aus 100 Herkunftsländern stammen die etwa 7000 Bewohner, von denen 65 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Auch die WG nimmt am Stadtteilleben teil. Im vergangenen Jahr brachte Sarah die studentische Theatergruppe „Mikrokosmos“ in den örtlichen Bürgersaal, der zweitgrößten Bühne Heidelbergs.
Ein Vorzeigestadtteil sollte an dem bewaldeten Hang in den 1970er Jahren entstehen. „Urbanität durch Dichte“ nannte sich das Konzept, mit dem Wohnraum für 11.000 Menschen geschaffen werden sollte. Neben den hohen Wohnblöcken ist die Trennung von Auto- und Fußgänger-Verkehr charakteristisch für die Siedlung und sollte sie zu einem idealen Wohnort für Familien machen. Die Gutachterkommission bestand aus Architekten, Landschaftsplanern, Vertretern der Stadt und der „Neuen Heimat“, einem Wohnungsbaukonzern, der die Umsetzung übernommen hatte. Alexander Mitscherlich, renommierter Heidelberger Psychoanalytiker und Sozialpsychologe, begleitete dabei die Planung des neuen Stadtteils, um „menschliche Architektur“ zu ermöglichen. Doch nach internen Querelen zog sich Mitscherlich 1975 überraschend aus der Kommission zurück. Durch Vetternwirtschaft und Korruption meldete die „Neue Heimat“ 1986 Insolvenz an. Seither sind die Gebäude im Eigentum der städtischen Wohnungsbaugesellschaft.
Nicht zu übersehen sind die hohen Häuserblöcke, wenn man von der Rhein-Ebene aus auf Heidelberg zusteuert. Während sie für viele Heidelberger bestenfalls zur Kenntnis genommen werden, bedeutet der Anblick für die WG das vertraute Gefühl von Zuhause. „Für mich steht dieser Block mehr für Heidelberg als das Schloss“, beteuert Jakob pathetisch und klingt beinahe so wie eine der lokalen Rap-Legenden.
von Margarete Over
Teil 1 der Serie „An die Tür geklopft“ findet ihr hier.