Seit mehr als einem Jahrhundert sind sie der mittägliche Zufluchtsort für Polen aus allen Gesellschaftsschichten. Doch die Zukunft der Milchbars ist ungewiss.
Bedächtig schlürft Władysław Bartosiński seine Żurek, eine Sauermehlsuppe, an deren Oberfläche ein hartgekochtes Ei schwimmt. Schick hat er sich gemacht für diesen Mittagsausflug: Er trägt einen dunkelbraunen Cordanzug, darunter ein cremefarbenes Hemd, seine grauen Haare hat er adrett zur Seite gekämmt. Vor drei Jahren ist seine Frau gestorben, seither kommt er jeden Tag um halb zwei in die Breslauer Milchbar „Bar Miś“. „Meine Rente ist so gering, dass ich mir nichts anderes mehr leisten kann“, sagt der 74-jährige Pensionär.
Im Hintergrund herrscht ein reges Treiben: Frauen um die Fünfzig, nur mit hellblauen Kitteln und weißen Sandalen bekleidet, wischen durch den Raum, bereiten Mittagsgerichte zu und knallen sie mit einem lauten „Proszę!“ auf die Theke. Die polnischen Milchbars sind ganz sicherlich kein Hort der Ruhe. An den Tischen herrscht ein ständiges Kommen und Gehen: Hier trifft der Rentner den jungen Studenten, der Arbeitslose den aufstrebenden Banker. Alle essen ihre Suppe, ihre Piroggen oder ihr Schweineschnitzel an einem Tisch, reden über das Wetter, über die Präsidentschaftswahl oder über sonstige alltägliche polnische Befindlichkeiten. Mal wild gestikulierend, mal aber auch sehr schweigsam. Dann starren sie auf die gedeihende Plastikblume in der Mitte des Tischs und sind nach wenigen Minuten schon wieder verschwunden. Ab und zu kommt ein Obdachloser vorbei und fragt nach ein paar Groszy. Zumindest für eine Suppe reicht es so immer.
Władysław Bartosiński schiebt den leeren Suppenteller beiseite und greift zu einem Teller, auf dem sich vier Naleśniki befinden, mit Quark befüllte polnische Pfannkuchen. An seinen ersten Besuch in einer Milchbar kann er sich nicht mehr genau erinnern. „Es muss irgendwann Anfang der 60er Jahre gewesen sein.“ Zu dieser Zeit erlebten die Milchbars ihren Höhepunkt, als mehrere Zehntausende dieser Schnellrestaurants die Volksrepublik durchzogen. Die kommunistische Regierung hoffte, so jedem Arbeiter ein halbwegs kräftigendes Mittagessen zu ermöglichen.
Dabei sind die Milchbars eigentlich kein Produkt des Kommunismus. Das erste Restaurant öffnete 1896 in Warschau. Ein Landwirt verkaufte im Zentrum der Stadt vegetarische Gerichte, die er auf Basis von Milch, Eiern und Mehl zubereitete. Ein Konzept, dass sich bald großer Beliebtheit erfreute und nach der Gründung der Zweiten Polnischen Republik 1918 im ganzen Land übernommen wurde. Von Anfang an hatte die Regierung Einfluss auf die Zusammensetzung der Gerichte und die Preisgestaltung.
Eine flächendeckende Verbreitung erreichten sie aber erst nach 1944. In den Anfangsjahren der Volksrepublik Polen war die Versorgungslage derart prekär, dass die Kommunisten die Idee der Milchbars wieder aufgriffen. Sie verstaatlichten alle schon bestehenden und riefen etliche weitere ins Leben. In ihrer Hochphase gab es bis zu 40 000, die den Arbeitern die fehlende Kantine ersetzten. So sollte die Bevölkerung möglichst preiswert und vegetarisch ernährt werden. Fleischgerichte gab es genauso wenig wie Desserts – beides war als zu bürgerlich verpönt.
Die Zeitenwende von 1989 hatte dann dramatische Auswirkungen für die kleinen Schnellrestaurants: Mit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes brachte die Welle des Kapitalismus die kulinarische Vielfalt der Fast-Food-Läden über den großen Teich. Die Freiheit schmeckte nach fettigen Hamburgern und frittiertem Hähnchenfleisch, während die Milchbars einen schleichenden Niedergang erlebten – im Jahre 2000 blieben nicht einmal mehr 150 von ihnen übrig.
Doch in den letzten Jahren erlebten sie ein leises Comeback. Viele Polen entdecken ihre alte Liebe wieder und stören sich wenig daran, dass den Milchbars das Stigma des „Ostalgie-Symbols“ anhaftet. Geändert hat sich nicht viel: Sie sind gewohnt spartanisch eingerichtet, die Bedienungen chronisch übelgelaunt und die Gerichte fast so günstig wie zu kommunistischen Zeiten. Allein Fleischgerichte finden sich nun ebenfalls auf der Karte.
In der schlesischen Hauptstadt Breslau ist die „Bar Miś“ („Miś“ bedeutet so viel wie „Teddybär“) ohne Zweifel die beliebteste. Auch für Aneta Szufarska, Jura-Studentin an der Universität Breslau. „Klar, die Preise sind unschlagbar, aber es ist vor allem die Qualität des Essens, die die Milchbars so besonders macht“, freut sie sich und beißt in die mit Erdbeermarmelade gefüllten süßen Piroggen. Die meisten Gerichte seien frisch zubereitet und bräuchten den Vergleich mit richtigen Restaurants nicht zu scheuen. Mindestens einmal die Woche kommt sie mit ihren Freunden hier her und tauscht sich mit ihnen über den Unialltag aus. In den letzten Wochen wurde allerdings die unsichere Zukunft der Milchbars selbst zum Gesprächsthema.
Ihre heutige Existenz verdanken die polnischen Milchbars einer großen finanziellen Unterstützung des Staats. Umgerechnet fünf Millionen Euro sind es jedes Jahr, mit denen er vegetarische Gerichte in den Bars bezuschusst. Nur so können sie beispielsweise die Piroggen für gut 50 Cent anbieten. Fleischgerichte sind von der Subvention ausgenommen und daher deutlich teurer. Dazu halten viele Städte und Gemeinden die Mieten gering. Im Dezember hat das polnische Finanzministerium aber bekanntgegeben, dass die Milchbars die staatlichen Zuwendungen weiterhin nur erhalten werden, wenn sie eine vom Ministerium herausgegebene Liste mit Zutaten befolgen. Auf dieser fehlen jedoch Gewürze, zudem dürfen sie nur eine bestimmte Sorte Pfeffer verwenden. Als die neuen Regelungen zum Jahreswechsel in Kraft traten, war das öffentliche Interesse noch gering. Jetzt, wo das ganze Ausmaß ein halbes Jahr später deutlich wird, regt sich Protest in Polen.
Sie habe noch nie von dieser Sorte Pfeffer gehört, gesteht Dorota Cisowska, Inhaberin der Bar Miś: „Es ist nahezu unmöglich, diesen Pfeffer hier in Breslau zu bekommen.“ Daher muss sie seit Januar auf die staatliche Unterstützung verzichten und hat die Preise so um bis zu 40 bis 50 Prozent erhöht. Ob das aber reichen wird, kann sie noch nicht abschätzen. Aneta Szufarska kann die Entscheidung der Regierung nicht nachvollziehen und fürchtet gar, dass viele der Milchbars bald schließen müssen: „Die meisten befinden sich in zentraler Innenstadtlage und blockieren so den Platz für schicke Geschäfte oder teure Restaurants.“ Dagegen hat sich in den letzten Wochen hauptsächlich digitaler Widerstand gebildet. So gibt es seit März eine Onlinepetition mit dem Titel „Wir retten die Milchbars“, auch Aneta hat sie mitunterzeichnet: „Die Milchbars sind ein Teil der polnischen Kultur und müssen unbedingt erhalten werden“. Dazu haben sich mehrere Facebookgruppen gegründet, in polnischen Städten gab es kleine Protestkundgebungen, die Medien berichten regelmäßig darüber und auch in der Politik entdecken die Oppositionsparteien die Milchbars langsam für sich. Womöglich könnten sie gar zu einem der Themen des anstehenden Wahlkampf werden, im Herbst wählen die Polen ein neues Parlament.
So ist dieses ganz besondere Refugium des polnischen Alltags also bedroht. Władysław Bartosiński aber winkt ab: Die Regierung könne es sich gar nicht erlauben, die Milchbars abzuschaffen, die Folge wären Millionen bettelnder Rentner, behauptet er scherzhaft, während er das letzte Stück Pfannkuchen verschlingt.
Von Michael Graupner
Aus Breslau, Polen