Heidelberger Forscher erklären die großen, ungelösten Fragen ihres Faches. Teil 4 der Serie.[box type=“shadow“ ] Oliver Schlaudt, Philosophie
Was ist das Verhältnis von Rationalität und Sozialität? In der Philosophie ist es schwierig, allgemeinverbindlich von ungelösten Problemen an einer Forschungsgrenze zu sprechen, da diese Disziplin erstens kaum kanonisiert, und zweitens immer auch intensiv mit ihrer Geschichte befasst ist, woraus drittens leicht der Eindruck entsteht, dass sie seit Anbeginn ohne Fortschritt um dieselben Probleme kreist. Die Wissenschaftsphilosophie prüft dasjenige Wissen auf seine Eigenart und seinen Wert, welches heute gesellschaftlich als beste Form anerkannt ist: die wissenschaftliche Erkenntnis. In den gut einhundert Jahren ihrer Existenz haben sich ihre Vertreter zumeist auf die „Rationalität“ der wissenschaftlichen Erkenntnis konzentriert, und daher die logische Struktur von Theorien und ihr Verhältnis zur Erfahrung geklärt. Immer wurde aber auch betont, dass die Erkenntnisproduktion der Wissenschaften in einem gesellschaftlichen Raum stattfindet, folglich auch soziologisch untersucht und auf soziale Voraussetzungen und Implikationen befragt werden kann. Das Verhältnis von Rationalität und Sozialität der Wissenschaften ist bis heute nicht geklärt. Zwei Positionen scheinen sich unversöhnlich gegenüber zu stehen: dass objektives Wissen uneigennützig und frei von Interessen sein muss – oder dass es nur durch ein interessenorientiertes Verhältnis zur Natur hervorgebracht werden kann. Im 20. Jahrhundert sind diese Positionen wiederholt in heftigen Kontroversen aufeinandergeprallt. Aber der Hintergrund unseres Wissens über uns selbst hat sich in den letzten Jahren verändert: Ergebnisse aus der anthropologischen Forschung weisen darauf hin, dass Rationalität ein Resultat des gesellschaftlichen Zusammenlebens und arbeitsteiliger Kooperation ist. Rationalität entspringt der Sozialität. Damit stellt sich der Wissenschaftsphilosophie erneut die Aufgabe, die gesellschaftliche Realität der Wissenschaften zu durchdenken und die Dichotomie von Rationalität und Sozialität zu überwinden. Es sei der Hinweis erlaubt, dass die interessantesten Impulse dazu heute aus der feministisch orientierten Wissenschaftsforschung kommen, welche für ein lokales und verkörpertes, weniger schematisches Rationalitätsverständnis plädiert. Bild: Ribax/Wikimedia Commons (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/6/6b/V._Heidelberg_Geb%C3%A4ude_des_Barock_Altstadt_Campus_Blick_vom_Portal_des_Carolinum_auf_Philosophisches_Seminar_und_Slawisches_Seminar_in_der_Schulgasse.jpg/800px-V._Heidelberg_Geb%C3%A4ude_des_Barock_Altstadt_Campus_Blick_vom_Portal_des_Carolinum_auf_Philosophisches_Seminar_und_Slawisches_Seminar_in_der_Schulgasse.jpg) Lizenz: CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)
[/box] [box type=“shadow“ ] Guido Sprenger, Ethnologie
Wer gehört alles zu einer menschlichen Gesellschaft? Die Ethnologie, die Wissenschaft von den kulturellen Unterschieden, formuliert Fragen über kulturelle Bedeutungen und soziale Beziehungen. Aber wen, beziehungsweise was, umfasst das Soziale? Die naheliegende Antwort – lebende Exemplare der Spezies Homo Sapiens – ignoriert die spezifischen lokalen Auffassungen, die weltweit auf diese Frage gegeben werden. Auf der einen Seite finden wir Geister oder Götter, mit denen die Menschen in stetem Dialog stehen, auf der anderen Tiere, Pflanzen und Dinge, ohne die sich die jeweilige Form von Gesellschaft nicht denken lässt. Es hat sich zunehmend als unangemessen erwiesen, Nicht-Menschen lediglich als Fantasien oder passive Ressourcen und Werkzeuge anzusehen. Das hieße nämlich, die Kommunikationsakte zu ignorieren, die unentwegt zwischen Menschen und Nicht-Menschen stattfinden, denn vielerorts gelten Menschen nicht als die einzigen Wesen, die zur Kommunikation fähig sind. Die daraus sich ergebenden Fragen ragen auf der einen Seite ins Philosophische: Was ist eine Person, wenn sie kein Mensch ist? Was bedeutet und bewirkt Kommunikation? Und auf der anderen ins Globale: Es sind durchaus nicht nur kleine, nicht-moderne Gesellschaften, in denen mit Nicht-Menschen kommuniziert wird. Mit den Wolkenkratzern wachsen die Ahnenaltäre und die verwunschenen Orte. Computerprogramme werden zu Freunden, Maschinen zu alltäglichen Helfern und Tiere erhalten Personenrechte. Für die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, Kultur und Natur ist ein Verständnis dieser Praktiken von weitreichender Bedeutung. In Forschungsgebieten, die von der Rückkehr der Religionen, der Kulturökologie und dem Animismus bis zu Multispecies Ethnography, Kunstethnologie und Science Studies reichen, spielt die Frage, wie Nicht-Menschen in das Soziale eingebunden werden, eine zentrale Rolle.
[/box] [box type=“shadow“ ] Silke Leopold, Musikwissenschaft
Ist Musik für immer verklungen, weil sie nicht dokumentiert wurde? Bach und Mozart, Beethoven und Brahms – mit Literatur über die großen Meister der Musikgeschichte lassen sich ganze Bibliotheken füllen. Deutlich weniger wissen wir über die anderen Komponisten in ihrem Umfeld, obwohl die Kenntnis ihrer Musik doch auch so viel über die jeweiligen Standards aussagen würde und, ganz nebenbei, manches zusätzliche Meisterwerk zutage fördern würde. Was Mozarts Kunst wirklich auszeichnete, erfahren wir nur, wenn wir die Musik seiner deutlich erfolgreicheren, heute aber weniger bekannten Zeitgenossen, all der Paisiellos und Cimarosas, der Voglers und Kraussens genauer anschauen. Fast gar nichts aber wissen wir bisher über den riesigen musikalischen Eisberg, als dessen Spitze die am Schreibtisch komponierte und in Noten aufgeschriebene Musik aus dem Meer der musikalischen Aktivitäten eines ganzen Kontinents im Laufe seiner Geschichte herauslugt. Wir meinen, nur diese sei relevant – dabei macht sie gegenüber der schriftlosen Musik der Vergangenheit, den Wiegenliedern und Militärmärschen, den Tänzen und virtuosen Zirkuskunststückchen auf den Marktplätzen, nur einen Bruchteil aus. Ist die andere aber für immer verklungen, nur weil sie nicht dokumentiert wurde? Es gibt Spuren in der schriftlichen Überlieferung, die Rückschlüsse erlauben. Ihnen nachzugehen könnte eine Aufgabe für die Zukunft sein. Die Geschichte der musikalischen Improvisation kann uns helfen, der schriftlosen Musik auf die Spur zu kommen. Aber wie die Musik vergangener Zeiten geklungen und welche Wirkung sie auf die Zuhörer ausgeübt haben mag, gehört auch nach der intensiven Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis zu den ungelösten Fragen. [/box]
zusammengetragen von Kai Gräf, Hannah Bley, Jesper Klein