Heidelberg galt vor 1933 als das intellektuelle Zentrum des Landes. Ein neuer Sammelband zeichnet diese Zeit in 32 Portraits nach.
Ein bisschen fühlt man sich wie in Dürrenmatts „Besuch der Alten Dame“, wo die unglücklichen Einwohner des fiktiven Nests Güllen auf die besseren Zeiten der einstmaligen Kulturstadt zurückblicken, in der Goethe übernachtet und Brahms ein Quartett komponiert haben sollen. In der Gegenwart bleibt den abgehängten Einwohnern nur übrig, den vorbeirauschenden D-Zügen nachzustarren.
Ganz so schlimm steht es um Heidelberg nicht. Die Zeiten aber, in denen Walter Benjamin hier weilte, um einer unglücklichen Liebe nahe zu sein, Max Weber beim Sonntagskreis in der Ziegelhäuser Landstraße 17 zum Monolog anhob und Georg Lukács einen mit Manuskripten bepackten Koffer in einen Safe der Deutschen Bank einschloss, wo er mehr als fünf Jahrzehnte ungeöffnet liegen blieb, sind lange vorbei. Statt aber nur der Strahlkraft dieser drei und 29 weiterer Namen nachzuhängen, wie das Dürrenmatts Helden tun, bietet nun ein Sammelband der „edition schöbel“ die Möglichkeit, die Aufenthalte dieser Geistesgrößen in der Stadt am Neckar detailliert und ganz ohne Verklärung zu betrachten.
Die Konzeption des „Lesebuchs“, wie es programmatisch heißt, ist das Verdienst der Herausgeber Markus Bitterolf, Oliver Schlaudt und Stefan Schöbel. Entstanden sind Schlaglichter auf die Geschichte der Stadt in einer ihrer intellektuell aufregendsten Perioden. Dass es in dem von den Herausgebern eröffneten Zeitfenster (1910–1933) so viele aufstrebende Denker nach Heidelberg zog, ist kein Zufall: Das „Weltdorf“ am Neckar (C. Jellinek) galt damals als „geheime Hauptstadt Deutschlands“ und stand im Ruf einer außergewöhnlichen Liberalität.
Der Vorzug dieses Sammelbandes besteht darin, dass die Portraitierten nicht als gemachte Intellektuelle behandelt, sondern im Moment ihres wissenschaftlichen und persönlichen Werdens abgebildet werden. „Die Portraits zeigen unfertige Menschen, die der Leser beim intellektuellen Experimentieren beobachten kann“, erklärt Oliver Schlaudt als einer der Herausgeber.
Nicht immer gelingt das: Die Formate der Darstellung sind ebenso heterogen wie die Qualität der Beiträge. Positiv hervorzuheben sind etwa die Beiträge über Walter Benjamin, Georg Lukács und Golo Mann. Wenn die Denker (zum Teil gänzlich) durch die Präsentation ihrer eigenen Schriften ihren Auftritt erhalten, kann das faszinieren – wie im Fall des Auszugs aus Jürgen Kuczynskis Memoiren – oder aber enttäuschend – so im Falle Alfred Webers.
Im Ganzen betrachtet vermag das sich beim Lesen entfaltende Panorama aber zu überzeugen, nicht zuletzt dank der gelungenen Auswahl der Portraitierten: Neben den berühmten und erwarteten Namen wie Hannah Arendt oder Max Weber sind auch unbekannte und nie gehörte darunter – Alfred Sohn-Rethel oder Alfred Seidel gehören dazu. Die von den Herausgebern nicht verborgene Parteilichkeit der Zusammenstellung zielte (mit Erfolg) darauf, „einige Lücken in der Erinnerungskultur zu schließen“, so Schlaudt.
Was den Band für Studenten besonders interessant macht, ist das biographische Stadium, in dem sich die Portraitierten befinden. Fast alle befinden sich zum Zeitpunkt ihres Heidelberger Aufenthalts in ihren Zwanzigern, und fast alle stehen vor einer ungeklärten Zukunft. Für nicht wenige ist Heidelberg der Ort ihres Scheiterns, und bei manchen der Biographien möchte man sich heulend die Bettdecke über den Kopf ziehen.
Das gilt im Besonderen mit Blick auf das Jahr 1933: Die Machtübergabe an die Nazis, übrigens unterstützt vom Gros der Studentenschaft, bereitete der Heidelberger Gelehrtenkultur ein jähes Ende. Aus dem lebendigen wurde der „deutsche“ Geist. Die meisten der portraitierten Intellektuellen müssen emigrierten oder wurden politisch marginalisiert. Das Heidelberger Geistesleben sollte sich davon nicht wieder erholen.
von Kai Gräf