Zwei Heidelberger Wissenschaftler sprechen über die ungelösten Fragen ihres Faches: Teil 5 unserer Serie.
[box type=“shadow“ ]Enno Giele, Sinologie:
Fremde Kulturen und Geschichte haben eines gemeinsam: Sie halten uns einen Spiegel vor, in dem wir uns meist gewahr werden, was wir nicht sind, aber gleichzeitig auch, was wir als Individuen und als Gesellschaft sein könnten beziehungsweise welche Anlagen und welches Erbe wir in uns tragen. Denn wie fremd oder lange vergangen diese Alternativentwürfe des Menschseins auch sein mögen, sie teilen mit uns das Menschliche.
Und wenn man sich damit beschäftigt, kommt man um den ständigen Vergleich, die unablässige Selbstreflexion gar nicht herum. Die klassische Sinologie ist dabei zumindest aus der Perspektive von Mitteleuropäern (und vielen anderen) eine potentiell erkenntnisreiche Herausforderung. Denn China im Altertum war die Bühne, auf der nicht nur die zeitlosen Ethiken und politischen Theorien des sogenannten Konfuzianismus, des Daoismus, und des Legismus entstanden, sondern auch die reichsweit vereinheitlichten Standards für Erziehung, Nachrichten- und Transportwesen, Zivilverwaltung und Militärdienst, Münzgeld, Handel, neue landwirtschaftliche Techniken und nicht zuletzt auch eine Schrift, die wie keine andere einen Brückenschlag über die Jahrtausende und selbst über Sprachfamiliengrenzen hinweg darstellt.
In dieser Zeit trat China über die berühmten Seidenrouten auch mit Zentralasien, Indien und indirekt mit Europa in Verbindung. Es war der wohl kompletteste Gegen- oder Parallelentwurf zu den hellenischen Ethiken und zum römischen Imperium. China wurde die Kultur- und Weltmacht, die bis in die frühe Neuzeit alle anderen an Größe und Einfluss hinter sich gelassen hatte. Wie dies genau geschah, welche Hindernisse, aber auch welches Potential diese Entwicklung zum Teil immer noch birgt, ist noch längst nicht ausreichend erforscht. Gleichzeitig ist es auch methodisch eine der spannendsten und vielfältigsten historischen Detektivaufgaben.
Als Quellen stehen nämlich nicht nur überlieferte Texttraditionen zur Verfügung, sondern – durch den großen Aufschwung des modernen China befördert – seit einigen Jahrzehnten auch zunehmend archäologisch geborgene Gegenstände und bauliche Reste, bildliche Darstellungen und wiederum ein so großer Reichtum an Inschriften und Handschriften, dass sich das uns bekannte antike Schrifttum in den letzten Jahrzehnten verdoppelt hat. [/box]
[box type=“shadow“ ]Jörg Riecke, Germanistik:
Betrachtet man die Gegenstände germanistischer Sprachwissenschaft unter dem Aspekt ungelöster Forschungsfragen, so fällt auf, dass uns nicht so sehr die Lösung konkreter Probleme beschäftigt, sondern die Formulierung von Fragen, durch die wir die Sprachgeschichte und ihre heutigen Gebrauchsformen besser verstehen. Da jede Generation bei der Beschreibung der Beziehungen von Sprache und Denken sowie Sprache und Gesellschaft andere Schwerpunkte setzt, ist dies ein niemals abgeschlossener Erkenntnisprozess.
Doch je weiter wir zurück schauen, umso häufiger stoßen wir dann doch auf ungelöste Probleme: Zwar sind wir über die Prinzipien des Sprachwandels gut informiert, wir können aber beispielsweise nicht rekonstruieren, warum im Laufe der Sprachgeschichte einzelne, wichtige Wörter wie die Ausdrücke für ‚groß‘ und ‚klein‘ im Mittelalter, mittelhochdeutsch ‚michel‘ und ‚lützel‘, auf dem Weg in die Neuzeit verschwunden sind, ebenso das zentrale althochdeutsche Verb ‚quedan‘ für ‚sprechen‘.
Wir können auch nicht sagen, warum die Sprachgemeinschaft einst zentrale Laute wie p zu pf (in englisch ‚apple‘ neben deutsch ‚Apfel‘) oder k zu ch (in englisch ‚make‘ neben deutsch ‚machen‘) vollständig und regelmäßig verschoben und so die deutsche Sprache lautlich erst konstituiert haben. Später sind es die neuen Diphthonge und Monophthonge wie in neuhochdeutsch ‚Haus‘ für mittelhochdeutsch ‚hûs‘ oder neuhochdeutsch ‚gut‘ für mittelhochdeutsch ‚guot‘. Gibt es einen gemeinsamen Ausgangspunkt für jede dieser Neuerungen oder haben sie sich an unterschiedlichen Orten gebildet? Hier lässt sich oft in Anbetracht der Quellenlänge nur spekulieren, ebenso in Fragen nach der Herkunft der indogermanischen Völker, ihrer Religion und ihrer Sozialstruktur. Genaugenommen wissen wir nicht einmal, ob der Name Heidelberg etwas mit Ziegen oder, weniger wahrscheinlich, etwas mit Heidelbeeren zu tun hat. Damit lässt sich aber leben.
Ein gewisses Maß an Unbestimmtheit ist quellenbedingt und für lebendige Sprachen geradezu konstitutiv. Es schützt zudem vor allzu einfachen Lösungen. Woher wir (sprachlich) kommen, liegt an vielen Punkten im Dunkeln, aber über den Weg sind wir insgesamt schon sehr gut unterrichtet.[/box]
zusammengetragen von Dorina Marlen Heller und Anna Maria Stock