Ab Januar 2016 könnte „Mein Kampf“ in Deutschland wieder neu gedruckt und verkauft werden.
Es ist eine skurrile Vorstellung: Man sitzt in der S-Bahn und der Sitznachbar liest wie selbstverständlich eine nagelneue Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“. Dieses Szenario könnte bald Wirklichkeit werden: In Deutschland gilt das Urheberrecht 70 Jahre ab dem Todesjahr des Autors. Im Falle von „Mein Kampf“ erlischt es dementsprechend zum 1. Januar 2016. Bisher liegen die Urheberrechte der berühmt-berüchtigten Hetzschrift Hitlers beim Land Bayern, welches damit die Rechtsnachfolge Hitlers darstellt.
Im Fall von „Mein Kampf“ sorgt das Urheberrecht aber nicht nur, wie normalerweise, für die Klärung der Besitzverhältnisse, sondern fungiert vielmehr als Zensur: Entgegen der landläufigen Annahme ist „Mein Kampf“ in Deutschland zwar nicht verboten – man darf es legal besitzen und sogar antiquarisch vertreiben, aber nicht neu verlegen und drucken lassen. Diese de facto Zensur fällt an Neujahr gemeinsam mit dem Urheberrecht. Dann kann jeder Verlag das Buch vertreiben und mit dem Verkauf sein Geld verdienen. Die Befürchtung besteht, dass sich Verlage mit einer neonazistischen Auslegung diese Regelung zunutze machen, um die Schrift an ihre Anhänger zu vertreiben.
Doch wie realistisch ist diese Befürchtung? Wer das Buch lesen möchte, konnte das auch bisher schon tun: In Unibibliotheken, auf Opas Dachboden oder ganz einfach im Internet. Wirklich schockierend ist die Aussicht auf neue Auflagen von „Mein Kampf“ – nüchtern betrachtet – also nicht. Schockierend ist diese Neuerung allein wegen des symbolischen Wertes und der Wirkung von „Mein Kampf“. 1923, schon zehn Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, hielt Hitler in „Mein Kampf“ seine zukünftigen Ziele für Deutschland, für seine Partei und für den Umgang mit den Juden in Europa fest. Wenn man die Kapitel heute liest, fühlt es sich in vielen Passagen wie eine Vorhersage des Dritten Reichs an. Doch obwohl das Buch während des Nationalsozialismus millionenfach gedruckt wurde und es in jedem Haushalt zu finden war, haben es nur wenige Menschen tatsächlich gelesen. Die bedrohliche Aura des Buches speist sich also auch aus dem Mythos, der es umgibt und aus der Bedeutung des Buches für die nationalsozialistische Ideologie.
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Erstaunlich ist angesichts dieser Beziehung der Deutschen zu „Mein Kampf“, wie wenig Widerhall das bevorstehende Ende des Druckverbotes in der deutschen Medienlandschaft erfährt. Dass die zentrale ideologische Quelle des Nationalsozialismus in wenigen Monaten in jeder Bahnhofsbuchhandlung zu kaufen sein könnte, lässt die meisten hierzulande offenbar ziemlich kalt.
Die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel unternehmen etwas gegen diese Gleichgültigkeit. Sie selbst haben das Buch zuvor nicht gelesen und ihre eigene Unkenntnis über das weltberühmte Buch als Anlass genommen, sich eingehend damit auseinanderzusetzen. Mit ihrer Theatergruppe „Rimini Protokoll“ haben sie ein Theaterstück entwickelt, das als Gastspiel in vielen deutschen Städten zu sehen ist, zuletzt am Nationaltheater in Mannheim. Mit dem Stück, das den pragmatischen Titel „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“ trägt, versuchen Helgard Haug und Daniel Wetzel zu ergründen, welche Wirkung das Buch noch heute auf uns hat. Ihre Herangehensweise ist schmucklos, aber effektiv: Auf der Bühne werden Abschnitte vorgelesen und durch persönliche Eindrücke und Geschichten kommentiert. Auf der Bühne wird zwar geschauspielert, aber die ausgewählten Darsteller spielen sich selbst: „Wir haben viele Experten getroffen: Historiker, Juristen, Journalisten, Archivare, Bibliothekare, Politiker, Aktivisten. Wir wollten ihre Lesart des Buches kennenlernen und mit ihnen über einen Umgang damit diskutieren. Diese Recherche hat ungefähr ein Jahr gedauert. Schließlich haben wir eine Auswahl von sechs Personen eingeladen, das Stück mit uns zu entwickeln.“
Haug und Wetzel verzichten dabei bewusst darauf, mit ihrem Stück zu belehren: „Aufklärung ist nicht unser Ding. Ich glaube, was der Abend leisten kann, ist, einen sehr offenen, kreativen Umgang mit dem Buch zu ermöglichen. Ich halte es für einen schwerwiegenden Fehler, ‚Mein Kampf‘ so lange tabuisiert zu haben. Weil man dem Buch seine Macht, auch seine Symbolkraft, nicht genommen hat, ist man jetzt voller Sorge, was es auslösen könnte, wenn es Neuauflagen geben wird.“
Im renommierten Institut für Zeitgeschichte in München (IfZ) stellte man sich bewusst gegen jedes Tabu und erarbeitete stattdessen eine wissenschaftliche Ausgabe des Buches. In aufwändiger Recherchearbeit haben die Historiker den Text untersucht, seziert und jedes Wort hinterfragt. Herausgekommen ist eine Edition, in der der Originaltext von Anmerkungen umgeben ist, sodass nicht mehr die Worte Hitlers die Hauptrolle spielen, sondern die wissenschaftlichen Erläuterungen. „Die Arbeit war höchst interessant und ich habe viel gelernt. Andererseits war es auch sehr kräftezehrend, weil das Projekt von Anfang an unter enormem Zeitdruck stand“, beschreibt einer der Herausgeber, Roman Töppel, seine Arbeit an der im Januar erscheinenden Edition. Die Ausgabe wird etwa 2000 Seiten umfassen und mit mehr als 5000 Kommentaren aufwarten. Die Herausgeber haben vor allem ein akademisches Publikum vor Augen, die Edition soll aber auch im Geschichtsunterricht eingesetzt werden.
Neben dem Zeitdruck war auch die Haltung der bayerischen Regierung eine große Hürde für die Wissenschaftler: 2012 entschied sich die bayerische Landesregierung, das Projekt mit 500.000 Euro zu unterstützen. Man wollte mit der wissenschaftlichen Version möglichen kommerziell orientierten Ausgaben etwas entgegensetzen. Doch etwa ein Jahr später entzog Horst Seehofer eigenmächtig und völlig überraschend seine Unterstützung, ohne diesen Sinneswandel mit dem Landtag abzustimmen. Zwar begründete er diese Entscheidung mit ethischen Erwägungen, diese werden in Fachkreisen aber nicht geteilt. Tatsächlich verteidigen und befürworten die Arbeit am IfZ sowohl etablierte Historiker, wie der Hitler-Biograph Ian Kershaw, als auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster.
Der Entzug der Unterstützung hat allerdings nicht nur finanzielle Konsequenzen: Als Rechtsnachfolger kann das Land Bayern Urheberrechtsverletzungen juristisch verfolgen. Genau damit wurde dem Institut auch gedroht, als es die Arbeiten an der Edition weiterführten. Doch die Regierung um Horst Seehofer ist nicht der einzige Gegner der Neuauflage. Es gibt weitere Kritiker, die gegen jede Form der Neuauflage sind und das Urheberrecht durch eine tatsächliche Zensur ersetzt sehen möchten. Diese Ansicht steht exemplarisch für das „Man muss doch auch mal vergessen können“, das man oft im Zusammenhang mit der deutschen Vergangenheit hört und womit man sich selbst der Möglichkeit verwehrt, aus der Vergangenheit zu lernen.Dieses Wegschauen verhindert eine Auseinandersetzung, die uns zeigen könnte, welches Verhältnis wir heute zu Hitlers Aussagen haben.
Für das Editionsprojekt war diese Haltung nicht nur eine Hürde, sondern auch eine Motivation. Deshalb zeigt sich Roman Töppel versöhnlich: „Inhaltlich haben die politischen Diskussionen und der Kurswechsel der bayerischen Regierung unsere Arbeit nicht beeinflusst. Was das politische und öffentliche Klima angeht, hat es mir persönlich sogar Auftrieb gegeben, von allen Seiten so viel Zuspruch für unsere Editionsarbeit zu bekommen, nachdem Ministerpräsident Horst Seehofer sich von unserem Editionsprojekt distanziert hat.“
Dass die Wirkung eines etwa 90 Jahre alten Buches der deutschen Öffentlichkeit und insbesondere der bayerischen Regierung auch heute noch Sorgen bereitet und in die Defensive treibt, verrät vielleicht mehr über unser Verhältnis zu „Mein Kampf“, als uns lieb ist. Die Zeit ist nun reif, dieses Verhältnis zu verändern: Im Theater, in der Bibliothek oder auch in der S-Bahn.
Von Johanna Famulok