Im Patrick Henry Village in Heidelberg wurde das größte Flüchtlings-Registrierungszentrum in Baden-Württemberg eingerichtet. Für die Flüchtlinge ist es jedoch nur eine weitere Zwischenstation auf dem langen Weg in die Normalität.
[dropcap]H[/dropcap]inter der Autobahnbrücke in Kirchheim liegt die Pforte zum Eingang der Flüchtlingsunterkunft. Die Schranke und das kleine Wachhaus erinnern an eine Zollgrenze, die Stimmung ist auffallend entspannt. Passierende Flüchtlinge und die Angestellten des Sicherheitsdienstes rufen sich kurze Sätze zu. Draußen halten Shuttle-Busse in die Stadt, drinnen Reisebusse, die Flüchtlinge aus anderen Orten in die Unterkunft bringen. Seit Oktober 2015 ist das Patrick Henry Village (PHV) das wichtigste Registrierungszentrum für neu ankommende Flüchtlinge in Baden-Württemberg. Die ehemalige Siedlung der amerikanischen Soldaten beherbergt derzeit 5217 Personen (Stand: 13. November 2015). Flüchtlinge, die erst kürzlich in Deutschland angekommen sind, werden hier in das EASY-Registrierungs-System aufgenommen und können ihren Asylantrag stellen.
Auf dem großen Platz hinter der Eingangspforte sind Mahmoud* und Namika Sahir* auf dem Weg in Richtung des Hauptbüros. Das Ehepaar kommt aus der syrischen Stadt Aleppo und ist seit 20 Tagen in Deutschland. Beide sind Anfang 30, Kinder haben sie keine. Sie sei Juristin und Mahmoud Elektro-Ingenieur, sagt Namika mit schüchternem Lächeln. Beide sprechen Englisch und sogar ein wenig Deutsch, das hätten sie bereits an der Universität in Syrien gelernt. Der Smalltalk währt jedoch nicht lange – sie berichten auch von Bomben und toten Verwandten. Zuerst seien sie innerhalb von Syrien umgezogen, doch der Krieg habe sie auch in anderen Städten eingeholt. Daher hätten sie sich entschlossen, nach Europa aufzubrechen. „Wenn in deinem Land vier Jahre lang Krieg herrscht, dann verlierst du die Hoffnung, dass es besser wird“, sagt Mahmoud.
Vielen geht es ähnlich: So kommen in jüngster Vergangenheit immer mehr Menschen nach Deutschland. Als im Herbst 2014 zum ersten Mal Flüchtlinge im PHV wohnten, war es nur eine Notunterkunft der Landeserstaufnahmestelle in Karlsruhe. Für alle bürokratischen Prozesse mussten die Flüchtlinge jedoch weiterhin nach Karlsruhe fahren. Als Reaktion auf die neuen Flüchtlingszahlen seit August dieses Jahres wurde die Anlage binnen Wochen zu einer gleichberechtigten Erstaufnahmestelle ausgebaut. Hier werden nun alle Schritte durchgeführt, die nötig sind, bis die Flüchtlinge Kommunen zugewiesen werden können. Die alte Grundschule der Amerikaner wurde aus diesem Grund zu einem Registrierungszentrum umgebaut.
Bei der Registrierung geht es los mit der so genannten EASY-Optimierung: Wo kommen die Flüchtlinge her? Haben sie Papiere dabei? Die Mitarbeiter nehmen Fingerabdrücke und erstellen ein Foto für den vorläufigen Ausweis, die so genannte „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“, die man ab einem Alter von 16 Jahren erhält. Dann wird im Rahmen des Königsteiner Schlüssels geprüft, welches Bundesland für den Flüchtling verantwortlich ist. Der Schlüssel bestimmt eine Quote zur Verteilung der Flüchtlinge auf die verschiedenen Länder in Abhängigkeit von Steueraufkommen und Bevölkerungszahl der Länder. Ist das erledigt, kann der Flüchtling seinen Asylantrag stellen. In Fällen mit guten Aussichten auf Anerkennung sollen Angestellte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die Entscheider, den Antrag sogar bereits direkt im PHV bearbeiten.
Zusätzlich zu den Flüchtlingen, die auf dem Gelände untergebracht sind, kommen auch mehrmals pro Woche Busse mit Flüchtlingen aus anderen Unterkünften zur Registrierung. Bereits jetzt gilt Heidelberg als „Drehkreuz“ in Sachen Flüchtlinge. Es wird jedoch angestrebt, den Prozess der Registrierung noch weiter zu beschleunigen. Bald sollen 600 statt 400 Personen pro Tag registriert werden. Die Flüchtlinge würden dann nur noch zwei bis maximal fünf Tage im PHV verweilen, so Alexander Billmaier, Pressesprecher des PHV, derzeit bleiben sie noch deutlich länger dort. Wenn sie dann auf die Kommunen verteilt werden, sollen sie nicht nur registriert und gesundheitlich untersucht worden sein, sondern ebenfalls einen Asylantrag gestellt haben. Als Bundesinnenminister
Thomas de Maizière Heidelberg im Oktober besuchte, nannte er das PHV als ein „Pilotprojekt für Deutschland“.
Dabei war die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft im PHV zu Beginn Streitpunkt innerhalb der städtischen Politik sowie zwischen Stadt und Land. Während die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD, Interview auf S. 10) für ein Registrierungszentrum in Heidelberg plädierte, war Oberbürgermeister Eckart Würzner zunächst strikt dagegen. Noch auf der Sitzung des Gemeinderats, auf der die Einrichtung schließlich beschlossen wurde, wiederholte Würzner seine Ansicht, dass die Stadt mit einer derartig großen Anlage überfordert sei. Der Gemeinderat jedoch war überwiegend anderer Ansicht und so einigte man sich schließlich: Man würde sich der Herausforderung stellen.
Seitdem wird daran gearbeitet, die Anlage den Anforderungen des hohen Personenaufkommens anzupassen. Mahmoud und Namika teilen sich ihr Zimmer mit einer weiteren Familie. Um Alltagsstreitigkeiten zu vermeiden, werden die Familien nach Möglichkeit getrennt von den vielen allein reisenden Männern untergebracht. Alleinreisende Frauen schlafen mit den Familien zusammen. Mittlerweile schafft man es im PHV, die meisten Flüchtlinge in normalen Wohngebäuden unterzubringen. Kommen plötzlich viele Neuankömmlinge auf einmal, greift man aber weiterhin auf große Bettenlager in Turnhallen zurück. Im Gespräch mit Pressesprecher Billmaier wird schnell klar, dass im PHV täglich logistische Meisterleistungen vollbracht werden müssen. Denn schließlich wollen neben der Registrierung auch die täglichen Bedürfnisse von derzeit mehr als 5000 Menschen auf einmal bedacht werden. Längst sind nicht alle Probleme beseitigt. Das PHV bietet viele weitere Gebäude, die derzeit jedoch nicht bezugsfertig sind. Trotz der zunehmenden Kälte müssen einige Flüchtlinge zum Duschen noch in Container gehen. Wer einen Termin in der Registrierungsstelle oder im Büro hat, muss oft mehrere Stunden im Freien vor den Bürogebäuden Schlange stehen, gleiches gilt für die Sprechstunden der Krankenschwestern vor Ort.
Berichte von Heidelbergern, die täglich im PHV sind, weichen von einander ab. Was auf dem Gelände passiert, ist zu vielfältig und zu komplex, um ein eindeutiges Urteil zu fällen. Nur in einem Punkt sind sich alle einig: die Beteiligten, vom Registrierungsangestellten über den Lokalpolitiker bis zum ehrenamtlichen Helfer, sind mit wahnsinnig viel Engagement dabei. „Dass bei der Masse an Menschen, die im Patrick Henry Village versorgt werden muss, auch mal etwas schief geht, ist einfach normal“, gibt Christian Heinze von der Diakonie zu bedenken. Gudrun Sidrassi-Harth, Mitbegründerin des Asylarbeitskreises, pflichtet ihm bei: das PHV sei eben noch im Entstehungsprozess, da werde sich in nächster Zeit noch sehr viel ändern.
[dropcap]A[/dropcap]uch Salar Ali (siehe S. 19) hat eine kleine Geschichte über Fehler im PHV zu erzählen. Während er mit uns redet, kramt der junge Mann eine zusammengefaltete Klarsichthülle aus seiner Hosentasche. Darin sind seine Papiere. Er zeigt uns ein DIN A4-Blatt, auf dem die Daten seiner EASY-Registrierung stehen. Er muss lachen: „Ich hatte gestern Geburtstag. Aber sie haben das Datum falsch eingetragen.“ Tatsächlich steht dort: Geburtsdatum 01.01.1998. Die Angestellten müssen bei der Registrierung versäumt haben, das Vorlage-Datum zu korrigieren. Salar nimmt es gelassen. „In Syrien bin ich jetzt schon 18, aber hier muss ich noch einen Monat warten”, lacht er.
Seit Tagen ist Salar im Patrick Henry Village. Seine Registrierung sei abgeschlossen, er warte nun darauf, dass er „transferiert“ werde. Dafür muss er täglich ins Hauptbüro um die Listen einzusehen. Salar ist guter Dinge, er vertreibe sich die restliche Zeit mit Dolmetschen oder er erkunde mit einem Freund die Gegend. Damit ist er jedoch eine Ausnahme. Die meisten anderen Flüchtlinge berichten von erdrückender Langeweile. Wer nicht vor den Behörden wartet, wartet auf den nächsten Termin.
Wie so viele wünschen sich auch Mahmoud und Namika einen festen Wohnsitz und eine feste Beschäftigung. Die Sehnsucht ist stark, sich an einem Ort niederzulassen und einen ganz gewöhnlichen Alltag zu führen. Sie sagen das tatsächlich so: „ein normales Leben“. Eine Familie mit vier kleinen Kindern berichtet, dass dies bereits das sechste Flüchtlingscamp ist, in das sie geschickt wurden. „Wir möchten endlich wieder ein Familienleben haben“, sagt der Vater. Viele wollen die Berufe, die sie in der Heimat ausgeübt haben, weiter betreiben. Namika und Mahmoud stellen viele Fragen: welche Behörde ausländische Zeugnisse anerkennen lässt; an welcher Universität es möglich sei, einen Doktor in Ingenieurwissenschaften zu machen. Sie wissen, dass sie noch viel vor sich haben, um tatsächlich in Deutschland anzukommen. Heidelberg ist vorerst nur eine Zwischenstation.
*Namen von der Redaktion geändert
Von Jasper Bischofberger und Hannah Bley
[box type=“note“ align=“aligncenter“ ]Flüchtlinge in Heidelberg
Seit September wird das Patrick Henry Village im Südwesten Heidelbergs als „Zentrale Registrierungsstelle des Landes“ genutzt. Im Bundesvergleich liegt die Aufnahmequote von Baden-Württemberg mit 12,93 Prozent hinter Bayern (15,23) und Nordrhein-Westfalen (21,22).
Zwei Drittel der Flüchtlinge, die in Baden-Württemberg ankommen, landen nun zunächst im PHV. Dort sind momentan etwa 5000 Flüchtlinge untergebracht, die aber nicht langfristig in Heidelberg bleiben werden.
Derzeit herrscht ein Aufnahmestopp für die Kommune, in der aktuell 581 Personen in Anschlussunterkünften in Kirchheim, Bergheim und im Pfaffengrund wohnen. Über den Winter werden aller Voraussicht nach weitere Flüchtlinge auf Dauer nach Heidelberg kommen: bis zu 1600.
Von Margarete Over
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