Konzert durch die Nacht.
Es ist nahezu still. Wer jetzt den Innenraum des EMBL Advanced Training Centre betritt, wird sich fragen, ob er hier richtig ist. Am Einlass wird im Flüsterton kommuniziert und Frauen in hochhackigen Schuhen schleichen auf Zehenspitzen über den Boden ans Treppengeländer. Es empfehlen sich Schuhe mit Gummisohlen.
Aber dann schwillen die zarten Klänge zu einem streicherlastiges Crescendo an, und unten auf dem Boden des Turms verabschieden sich Nik Bärtsch und Band aus der sehr langsamen, ruhigen Episode und steigen in den neuen, lebendigeren Abschnitt ein.
Vom späten Nachmittag an bis zum Abschluss des Konzerts zu Sonnenaufgang wechseln sich solche leisen Perioden mit lauten, treibenden Stücken ab.
Natürlich spielen sie nicht die ganze Nacht hindurch in Vollbesetzung. Mal sind sie zu zweit oder dritt, mal sitzt Bärtsch alleine am Flügel.
Die ungewöhnliche Dauer bereitet eine zeitbefreite Athomsphäre: die laufend eintreffenden Besucher spazieren frei jeder Hektik im Turm umher. Dieses futuristische Gebäude liefert eine beeindruckende multimodale Komponente zum Artwork, zwischen Wendel- und Quertreppen laufen Lichtanimationen, so werden die auf den Treppen wandelnden Besucher mit ihrem Schattenwurf selbst zum Teil des Events. Der die Band umkreisende Aufstieg zur Turmspitze erlaubt es, die auditiven wie visuellen Elemente im architektonischen Einfluss des Gebäudes zu erfahren, während um einen die Projektionen spielen.
Tatsächlich sind auch die meisten auf den Treppen unterwegs, der eigentliche Zuschauerraum, die Stuhlreihen direkt vor der Bühne, füllen sich erst zum Abschluss des Konzerts. Die Hörenthusiasten können sich direkt auf der Bühne niederlassen und so die Musik aus nächster Nähe erleben – wie auch die teils seltenen Instrumente genauer betrachten.
Mit einer Bassklarinette und einem vielfältig ausgestatteten Percussionisten ergibt sich eine sehr breites, dynamisches Soundfeld. Zusammen mit dem Schlagzeuger liefern sie in den ersten Morgenstunden eines der intensivsten Klangerlebnisse ab, gekrönt von Bärtsch, als er aus seiner Pause zurückkehrt. Am Flügel benutzt Bärtsch weitaus mehr als nur die Tasten: Ständig sieht man ihn über den offenen Kasten gebeugt, die Saiten direkt manipulierend. Er selbst bezeichnet seine Stücke als Module und wenn man sie genauer betrachtet, sind sie das auch: man kann keine herkömmliche Melodie erkennen, vielmehr werden unterschiedliche Strukturen so ineinandergeschoben, dass sie harmonisch verschmelzen. Einige längere Muster wiederholen sich im Laufe der Nacht und geben dem sonst so unkonzertigen Klangevent einen Rahmen.
Als Ruhezonen sind Matten und Sitzgelgenheiten rings um die Treppenhelixen verteilt, aber nur wenige verharren an einer Stelle. Viel zu abwechselungsreich ist die Erfahrung, langsam den Turm entlang zu wandern und die Klangveränderungen zu erleben. Die starke Einbindung der Örtlichkeit in das Event wird mit Minilesungen aus der Biologie vervollständigt: Christian Reiner schlägt mit seinen in klarer Stimme vorgetragenen Beiträgen eine Brücke von Kunst zu Wissenschaft.
Wer aufmerksam ist, bemerkt weitab der Bühne einen weiteren Bestandteil des Events: In einem mehrstündigen Tanzmarsch wandern zwei mit Leuchtkörpern behangene „Time Shadows“ ohne jede Theatralik von der Turmspitze die Treppen hinunter und greifen damit wiederum das Thema der Lumineszenz auf, das auch in den Vortägen Reiners auftaucht.
Den Sonnenaufgang begrüßt die Band wieder in voller Aufstellung mit einem tosendem Finale. Die Zuschauer haben sich zum Abschluss wieder vor der Bühne eingefunden und liefern ihrerseits einen frenetischen Applaus für die intensive, vielleicht sogar spirituelle, Erfahrung.
von Jani Takhsha