Zum Welt-AIDS-Tag erklären Betroffene und Wissenschaftler, wie sich die Behandlung im Laufe der Jahre verbessert hat.
[dropcap]K[/dropcap]arl-Heinz „Kalle“ Riegler sitzt im Rollstuhl. Er sieht hager aus. Dennoch erzählt er mit funkelnden Augen und einer selten zu findenden humoristischen Offenheit über sein Leben. Ein Leben im Rollstuhl und mit der Krankheit AIDS. Sein Ehemann Dieter steht hinter ihm und legt im liebevoll die Hände auf die Schultern. Mit einem zurückhaltenden Lächeln steuert er kleine Anekdoten bei. Dieter ist blind. Trotz dieser Lebensumstände gibt das Paar aus Heidelberg ein beeindruckendes Bild der Lebensbejahung ab. Das findet auch der Regisseur Andreas Kessler, der den Dokumentarfilm „Positive Gefühle“ über ihr Leben gedreht hat.
„Früher war es wie ein Todesurteil, HIV zu haben“ erinnert sich Kalle. Die Medikamente waren nicht so gut wie die heutigen, die Information über die Krankheit eher rudimentär. „Es gab Ärzte, die mir zur Begrüßung nicht die Hand geben wollten.“ Erstmals wurde 1981 von einem „Erworbenen Immundefizitsyndrom“, kurz AIDS berichtet, das sich vor allem in der homosexuellen Gemeinschaft San Franciscos ausgebreitet hatte. Im Jahr 1983 entdeckte der Virologe Luc Montagnier und sein Team den kausalen Zusammenhang von AIDS und einem neu entdeckten Virus. Später wurde die sexuelle Übertragbarkeit bestätigt. 1986 erhielt der Virus seinen Namen: HI-Virus.
Die fieberhafte Suche nach einem Heilmittel führte zur Entwicklung des ersten AIDS Medikamentes Azido Thymidin, kurz AZT. „Als ich 1989 von einem neuen Medikament aus Amerika hörte, habe ich mich sofort bereit erklärt es zu nehmen. Das Medikament schädigte aber mein Immunsystem, weil ich eine zu hohe Dosis bekommen habe“, meint Kalle. Wie sein Fall zeigt, war damals wenig über die möglichen Nebenwirkungen bekannt. Trotzdem setzte er weiter auf die neuesten Entwicklungen in der AIDS-Therapie. „Bei einer Teststudie habe ich mich ebenfalls sofort bereit erklärt mitzumachen.“
Bald wurde die Monotherapie mit AZT von einer Kombination aus zwei Medikamenten ersetzt, da die Viren schnell Resistenzen gegen einzeln verabreichte Wirkstoffe entwickelten. Heute hat sich eine Therapie mit drei Wirkstoffen durchgesetzt, die in Studien die besten Ergebnisse erzielt. „Es war ein Fehler, dass ich nicht gleich von einer Zweier- zur der Dreierkombination gewechselt habe“, meint Kalle weiter.
Sein steiniger Weg spiegelt wider, dass die Suche nach einer guten Therapie lang und schwierig war, aber schlussendlich zu dem umfangreichen Repertoire von 30 Wirkstoffen gegen HIV geführt hat. Daraus wird klassischerweise für jeden Patienten eine optimale Dreierkombination zusammengesetzt. „Es gibt kein Medikament, das für alle passt, aber für fast alle Menschen gibt es eine funktionierende Medikamentenkombination“, fasst Philipp Jacob, Sozialarbeiter bei der AIDS-Hilfe Heidelberg, zusammen.
Inzwischen ist die Therapie so gut, dass „die Lebenserwartung von kürzlich diagnostizierten, asymptomatischen HIV-infizierten Patienten sich der von nicht infizierten Individuen annähert“, so Hans-Georg Kräusslich, Professor am Universitätsklinikum Heidelberg, dessen Arbeitsgruppe sich mit HI-Viren beschäftigt. „Aber wenn die Therapie gestoppt wird, kehrt der Virus sofort zurück.“ Somit müssen die Patienten ihr ganzes Leben lang täglich die Medikamente einnehmen.
Aktuell geht die Forschung in die Richtung komprimierterer Verabreichungsformen, weniger Nebenwirkungen und längerer Zeitabstände zwischen den Einnahmen. Wo früher alle sechs Stunden kontinuierlich ungefähr eine halbe Kaffeetasse Tabletten eingenommen werden musste, reicht heute fast schon eine Pille pro Tag aus.
Früher war es wie ein Todesurteil, HIV-positiv zu sein
Ein neuer Trend zeichnet sich in Amerika ab. Bei der sogenannten Präexpositions-Prophylaxe werden Personen mit hohem Ansteckungsrisiko vorsorglich mit HIV-Medikamenten behandelt. Das Mittel der Wahl hierfür heißt Truvada. In Deutschland ist es für diesen Zweck noch nicht zugelassen. Die AIDS-Hilfe Heidelberg befürwortet die prophylaktische Einnahme von HIV-Medikamenten: „Es ist eine wunderbare Maßnahme, um Infektionen zu vermeiden, aber es sollte eine gewissenhafte Einnahme stattfinden, da sich sonst Virusresistenzen entwickeln könnten.“ Zudem steht die große Frage im Raum, wer die 8000 Euro Behandlungskosten pro Monat zahlen würde.
Trotz der guten Therapie gibt es bisher noch kein Heilmittel, aber Hans-Georg Kräusslich zeigt sich zuversichtlich: „Ich sehe keinen funktionellen Grund, warum die Produktion eines Impfstoffes gegen HIV nicht irgendwann einmal möglich sein wird.“
Die Entwicklung der AIDS-Behandlung spiegelt sich auch in den Beratungsinhalten der AIDS-Hilfe Heidelberg wieder. „In den Neunzigern waren wichtige Themen die Effektivität der Medikamente, der Schutz des Partners oder die Frage ‚Wie lange lebe ich noch‘“, meint Philipp Jacob. Wo das „Buddyprogramm“ der AIDS-Hilfe früher eher eine Sterbebegleitung war, kann sie heute als Lebenshilfe verstanden werden.
Trotzdem darf noch lange nicht auf eine Entwarnung gehofft werden. Probleme treten an anderen Stellen auf: Neben der mangelnden Aufklärung vor allem in Afrika und auch Osteuropa, ist es für einige Länder schlichtweg zu teuer, alle Betroffenen medikamentös zu behandeln. Dazu kommt, dass viele nicht wissen, dass sie mit HIV infiziert sind und erst bei schweren Symptomen zum Arzt gehen. Laut Robert-Koch-Institut wissen von den in Deutschland lebenden 80.000 HIV-Erkrankten etwa 14.000 nicht, dass sie infiziert sind. Ein frühzeitiges Erkennen der Krankheit kann den Unterschied zwischen einem fast normalen Leben und einen schnellen Tod machen. Nach dieser Devise handelnd bietet die AIDS-Hilfe in Kooperation mit dem Gesundheitsamt Heidelberg einen kostenlosen Schnelltest an. „Die Nachfrage ist ungebrochen hoch. Der Test wird sehr gut angenommen“, meint Philipp Jacob dazu.
Auch Karl-Heinz und Dieter engagieren sich bei der AIDS-Hilfe, Kalle sogar im Vorstand. „Es hat mir einfach Spaß gemacht und Auftrieb gegeben. Außerdem können viele wegen ihrer Familie oder Verwandtschaft nicht so wie wir beide in der Öffentlichkeit stehen. Wir tun das auch für die anderen.“
Von Monika Witzenberger