Der Heidelberger Karlstorbahnhof feiert Jubiläum. Ein Ständchen zum Geburtstag.
Dem hellen Licht folgt die ruprecht-Redakteurin Anja Steinbuch 1995, bis sie zum Karlstorbahnhof gelangt. Denn in jenem Jahr, genauer am 8. Dezember, öffnet dieser erstmals als Kulturzentrum seine Pforten. Als etablierte Größe in der Heidelberger Kulturszene feiert er nun sein 20. Jubiläum. Doch so vorbehaltlos die Lobeshymnen anlässlich des Jahrestages von allen Seiten tönen, so umstritten war das soziokulturelle Zentrum einst. Der steinige Weg zum heutigen Glanz begann nicht erst vor 20 Jahren.
Beachtliche 17 Jahre zuvor entsteht die Idee. Damals stellt die Bahn das Gebäude zum Verkauf. „Daher habe ich in der Heidelberger Rundschau darauf aufmerksam gemacht, dass das eigentlich der ideale Ort für ein soziokulturelles Zentrum ist“, erinnert sich Wunderhorn-Verleger Manfred Metzner. Die „wilden Siebziger“, seine Studienjahre, enden abrupt mit der Räumung des Wohnheims Collegium Academicum 1978. Viele vormals dort angesiedelte kreative und soziale Gruppierungen werden heimatlos und suchen neuen Raum. Doch scheint das der Stadt ein ungeliebtes Wagnis. „Die CDU und die Freie Wählervereinigung waren die Hauptgegner eines soziokulturellen Zentrums“, berichtet Metzner. Als offizielles Argument hält, wie stets, das liebe Geld her. So schreibt Karin Werner-Jensen (Freie Wählervereinigung) im ruprecht-Pro/Contra vom Februar 1994: „Am Golde hängt’s – und da Heidelberg keins mehr hat, kann es auch keins mehr ausgeben.“ Und das, obschon die CDU-Landesregierung bereits in den Siebziger einen Etat für die Förderung soziokultureller Zentren beschlossen hat. Auch der konservative Oberbürgermeister Reinhold Zundel ist nicht von der Idee zu überzeugen. Erst die Wahl der neuen Oberbürgermeisterin Beate Weber im Jahre 1990 ebnet den Weg zum Kulturhaus. Im ruprecht argumentiert sie gegen Werner-Jensen: „[Es] fehlte […] an geeigneten Räumen für die kulturelle Betätigung der vielen Heidelberger Gruppen und es gab kein Forum für neue künstlerische Impulse und Experimente.“ In der Zwischenzeit hat sich auch die politische Landschaft in Heidelberg verändert; die Bereitschaft, alternativer Kultur einen Platz zu bieten, ist gestiegen und so bewilligt der Gemeinderat Umbau und Einzug.
Schon beim Einstand am 8. Dezember 1995 bleibt das Programm in seiner Vielfalt nicht hinter dem selbst gesetzten Anspruch zurück: Tanzbar und international steigt das erste Konzert mit dem marokkanischen Afropop-Musiker El Houssaine Kili ein. Es folgen Kabarett, Hip-Hop- und Jazzkonzerte, Literatur- wie Theaterprogramm – da ist also diese „alternative Kultur“, die zuvor von den einen ersehnt, von den anderen skeptisch beäugt wurde.
Vier Vereine tragen fortan das Kulturhaus: der freie Theaterverein, das Medienforum, der Eine-Welt-Laden und das Kulturcafé. Dem ruprecht (Nr. 38) verkündet Geschäftsführer Johannes Rühl damals, im Karlstorbahnhof solle die lokale und freie Kulturszene von überregionalen Einflüssen bereichert werden. Zwei Monate später hat der Betrieb Fahrt aufgenommen. In einem ersten Resümee (ruprecht Nr. 40) erklärt Rühl, man könne die finanzielle Lage erst in einem Jahr umfassend beurteilen, zumal viel Publikum auch viel Personal erfordere. Doch fährt er einen gewagten Kurs: Um das Publikum mit „neuen Ideen zu überraschen“, nimmt er bewusst kommerziell schwache Projekte in das Programm auf, in der Überzeugung, diese mit populäreren Veranstaltungen ausgleichen zu können.
Im Mai 1998 wird der Idealismus durch die erste Pleite ernüchtert: Es stellt sich heraus, dass in den ersten Jahren ein massives Minus erwirtschaftet wurde. Mit der Begründung, zu viel Personal eingestellt, ungeschickt gebucht und Zahlen geschönt zu haben, werden die beiden Geschäftsführer Johannes Rühl und Jürgen Arlt überraschend verabschiedet – letzterem haften zudem Unterschlagungsvorwürfe an.
Dennoch bedeutet das für den Karlstorbahnhof nicht das Aus. Stattdessen steigt Ingrid Wolschin als neue Geschäftsführerin ein. Bis heute wacht sie über die Finanzen und die konzeptionelle Ausrichtung des Hauses. Dennoch kämpft der Bahnhof immer aufs Neue um Geld, Ressourcen und politische Anerkennung. Auf Schuldenerlass folgen Kürzungen, darauf Defizit-Ausgleich – das Budget war von Beginn an knapp. Trotzdem bleibt das Kulturhaus dem Anspruch an die Programmvielfalt treu: Internationale, bekannte wie aber auch unentdeckte, regionale Künstler teilen sich eine Bühne, das freie Theater versammelt sich im „Tikk“, die Cineasten im mittlerweile unabhängigen Kino.
Insbesondere der Förderung junger Talente schreibt das Haus einen hohen Stellenwert zu. Konstantin Gropper, nun bekannt als Frontman von „Get Well Soon“, war vor seiner Zeit als Subkultur-Troubadour darbender Student der Philosophie an der Universität Heidelberg. „Der Unibetrieb war kurz davor, für immer meinen Geist und Lebenswillen zu brechen, als sich am Horizont ein Silberstreif auftat. Der Karlstorbahnhof als Nachtasyl mit Geschmack bot der geplagten Studentenseele zunächst, worauf es im Studium wirklich ankommt: Alkohol“, erinnert er sich in der Festschrift zum 15-jährigen Jubiläum. Seit 2003 begleitet der mittlerweile erfolgreiche Songwriter und Filmmusikkomponist das Kulturzentrum. Zur aktuellen Festwoche tritt er an der Seite des Jazz-Pianisten Michael Wollny auf, damals zum 15-jährigen Jubiläum mit seiner Band „Get well soon“. Zu jenem Anlass bestritt eine junge, noch unbekannte Band aus der Region im Vorprogramm ihren ersten Auftritt auf großer Bühne. Auch sie kehrt zur 20-Jahr-Feier wieder: Die Jungs von „Sizarr“ waren mittlerweile als Vorgruppe von Woodkid und Vampire Weekend unterwegs, bespielen das Melt- und Berlin-Festival und touren Solo durch Mitteleuropa.
Ein weiterer treuer Gast ist Schriftsteller Wladimir Kaminer. 2001 kommt er erstmals für eine Lesung in den Karlstorbahnhof und lädt zur Russendisko ein. Es ist die erste Russendisko außerhalb Berlins. Seither kommt er jährlich nach Heidelberg, liest seine neuen Geschichten vor und legt anschließend Musik von Balkan-Beat bis Ostblock-Punk auf. Die Künstler zu begleiten ist es, was Ingrid Wolschin besonders schätzt: „Sie kommen wieder, auch wenn sie das gar nicht mehr nötig haben.“
Nicht allein solch freudige Beobachtungen erfüllen die Jubiläumsfeierei. Es schwingt stets ein Hauch Nostalgie mit, bedenkt man, dass der Umzug des Kulturzentrums kurz bevorsteht. Aus Platzgründen verabschiedet sich die Institution aus der Altstadt. Voraussichtlich im Herbst 2017 wird der neue Karlstorbahnhof auf den ehemaligen Kasernenflächen der Campbell-Barracks seine Publikumstore öffnen. Ein Café und ein großes Foyer sollen auch tagsüber zum Treffpunkt in der Südstadt werden. Erst kürzlich entschied der Gemeinderat den gleichzeitigen Umzug des Karlstorkinos, so dass auch weiterhin cineastisch-musikalische Synergien zu erwarten sind. Bis dahin wird im alten Bahnhof weitergefeiert. Der Name „Karlstorbahnhof“, das steht fest, wird auch fern des Tores, fern der Bahnstation das neue Gebäude zieren.
Von Christina Deinsberger und Margarete Over
Auflösung Titelbild: Fiva MC, Me and My Drummer, Patrice