Ein Journalismus-Workshop in Kiew zeigt die Unterschiede zwischen Deutschland und der Ukraine. Eine Spurensuche.
[dropcap]W[/dropcap]as braucht ein guter Journalist? Neugier, Streitlust und Misstrauen. Gute Nerven, Sprachtalent und breit gefächerte Interessen. Dies suggeriert ein Kanon journalistischer Attribute, auf den man zwangsläufig stößt, wenn man sich mit dieser Frage beschäftigt. Erweitern lässt er sich je nach Standpunkt in diese oder jene Richtung, das Credo bleibt jedoch unverändert. Zumindest in Deutschland.
Szenenwechsel: Bei einem Journalismus-Workshop des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Kiew beschäftigen sich etwa 20 ukrainische Schüler und Studenten mit derselben Frage. Was braucht ein guter Journalist? Und auch wenn auf der Präsentation, die die ukrainische Journalistin Victoria Bilash an die Wand wirft, in etwa die Begriffe stehen, die der Kanon erwarten lässt, überrascht das Ergebnis. Denn zwei Begriffe fallen überdurchschnittlich oft: Mut und Kontakte. Doch eigentlich ist das nur logisch.
Im Begriff Mut sind zwei Dimensionen enthalten: Mut zur Meinung, im Kleinen aber auch der Mut zum Engagement. „Die Ukraine ist ein gefährliches Land, besonders wenn es um investigativen Journalismus geht“, erzählt Veronika Dyminska. Die 20-Jährige studiert Germanistik am Polytechnischen Institut in Kiew. „Es gibt sehr viele brisante Themen – Korruption, neue politische Machthaber oder den Krieg. Es gibt aber nicht so viele Journalisten, die daran arbeiten möchten, weil es lebensgefährlich ist. Die Journalisten, die sich damit beschäftigen, sind für mich wahre Vorbilder.“
In der Rangliste der Pressefreiheit belegt die Ukraine Platz 129. Der ukrainische Journalist Ruslan Kotsaba sitzt seit Februar in Untersuchungshaft, ihm drohen 15 Jahre Gefängnis. Kotsaba hatte sich in einem Youtube-Video gegen die Mobilisierungsaktionen der ukrainischen Armee und die Fortsetzung des Krieges im Osten des Landes ausgesprochen. Er wurde wegen Spionage und Hochverrat verhaftet.
Weiterhin ist Korruption eines der Hauptprobleme des Landes. Auch beim Workshop in Kiew ist sie ein Thema, da sie unmittelbar den Alltag der Studenten betrifft, zum Beispiel bei der Vergabe von Stipendien: „Entweder lässt ein Beamter sich bestechen und gibt den Platz dem, der mehr bezahlt oder er verschweigt das und merkwürdigerweise geht das Geld ‚verloren‘“, schreibt eine Gruppe in einem Artikel, der während des Workshops entsteht. Auch im Korruptionsindex des Jahres 2014 ist die Ukraine nur auf Rang 142 verzeichnet. Zum Vergleich: Deutschland belegt in beiden Rankings den zwölften Platz.
Die ukrainischen Studentenzeitungen lassen sich in von der Universität finanzierte und selbstständige Teams einteilen. Bei der ersten Gruppe bestimmen die Geldgeber auch die Inhalte und auf die Universität bezogene Themen stehen im Zentrum. Die selbstfinanzierten Zeitungen erscheinen überwiegend online und die Redakteure sind frei in der Themenwahl. Unabhängig ist auch die deutschsprachige Studentenzeitung „Buchstabensalat“, die DAAD-Lektorin Anja Lange in Kiew ins Leben gerufen hat. „Ich bin darauf stolz, dass ‚Buchstabensalat‘ selbstständig ist“, sagt Veronika. „Unser Konzept ist, dass jeder das schreibt, was er will. Nur in solchem Journalismus sehe ich Zukunft.“ Aufgrund des verschulten Studiums und des vollen Stundenplans bleibt jedoch wenig Zeit für solche Projekte.
Kontakte spielen zweifellos auch im deutschen Journalismus eine große Rolle. Oft jedoch eher im Sinne eines Netzwerkes zum Informationsaustausch, als zur bloßen Informationsbeschaffung. Es ist gewiss kein Zufall, dass Bilash eine Liste von Facebook-Seiten an die Wand wirft, die als verlässliche Informationsquelle dienen können. Während wir aus einem Pool in der Regel zuverlässiger Quellen selektieren können, muss dieser dort überhaupt erst geschaffen werden. „Was die Medien angeht, vertraue ich viel mehr einigen Journalisten als den Medien insgesamt. Es gibt in der Ukraine selbstständige Journalisten, wir haben aber wenig selbstständige Medien“, schildert Veronika ihre Eindrücke.
Bei diesen Unterschieden wird deutlich, dass wir uns den Journalismus betreffend in einer Komfortzone befinden – häufig ohne uns dessen bewusst zu sein. Den ukrainischen Studenten geht es oftmals um grundlegendere Dinge, um Probleme, die uns im Alltag nicht begegnen. Nun ist es gewiss zu eindimensional gedacht, aus einer brisanteren politischen Lage eines Landes die Relevanz journalistischer Themen eines anderen Landes abzuleiten. Und doch ist es beachtenswert, wenn solch grundlegende Dinge aus dem Bewusstsein verschwinden, weil sie als selbstverständlich angesehen werden.
Von diesem Standpunkt aus mutet es nach einem Luxusproblem an, wenn „Lügenpresse“-Parolen auf die Missstände des deutschen Journalismus hinweisen. Das, was in das deutsche Konzept einer „Lügenpresse“ projiziert wird – wie die Angst vor Manipulation und Korruption – gehört dort zum Alltag. Unsere Vorstellungen journalistischer Werte beruhen auf einer Grundlage, in der Korruption, Manipulation und Klüngelei zumindest auf dem Papier keine Rolle spielen. Wenn diese Basis wie im Falle der Ukraine fehlt, rücken plötzlich ganz andere Dinge in den Fokus und das Prioritätsgefüge verschiebt sich. Und natürlich geht es dann um Mut und Kontakte.
Von Jesper Klein aus Kiew, Ukraine