Mitte der Achtzigerjahre wird in Heidelberg zum ersten Mal auf Deutsch gerappt. Ein neuer Kinofilm blickt nun darauf zurück.
[dropcap]C[/dropcap]ampbell Barracks, Heidelberg, 1986. Bei einer Jam-Session im Lager der US-Army springt ein Vermummter auf die Bühne und beginnt auf Deutsch zu rappen. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Die Amerikaner sind verstört, das ist Anarchie. Panik bricht aus, ein junger Amerikaner wird zu Tode getrampelt. Danach ist „Tigon“, der mysteriöse Rapper, verschwunden. Für immer.
So erzählt es zumindest „Blacktape“, der „erste deutsche Hip-Hop-Film“, der in diesen Tagen in die Kinos kommt. Eine Art Doku-Thriller, eine Reality-Schnitzeljagd. Die Grundgeschichte geht ungefähr so: Der Regisseur und Musiker Sékou Neblett macht sich gemeinsam mit den beiden Hip-Hop-Journalisten Falk Schacht und Marcus Staiger (Entdecker von Kool Savas, Sido und einigen anderen) auf die Suche nach dem legendären Tigon. Diese führt sie – wie sollte es anders sein – dorthin, wo dieser auch verschwunden ist, nach Heidelberg. Klein, beschaulich, wenig Ghetto-Potential. Und doch: die Wiege des deutschen Hip-Hops.
Kurze Erklärung für den Außenstehenden: Hip-Hop ist nicht Rap. Als Laie tappt man leicht in diese Falle und fängt sich in einer Gruppe von Kennern schnell verächtliche Blicke ein. Hip-Hop ist auch Rap, aber eben nicht nur. Es ist eine Kultur, zu der zu gleichen Teilen auch das Sprayen, das DJing und das B-Boying (Breakdancing) gehören – besser bekannt als „die vier Elemente“. Eingeschworenen Fans mag das geläufig sein, der breiten Mehrheit jedoch gerade deshalb weniger, weil viele der aktuell großen Namen sich vor allen Dingen auf das Rappen konzentrieren. Nostalgiker (die gibt es nämlich auch in hippen Subkulturen) beklagen deshalb oft, dass die Einheit der vier Elemente immer mehr verloren gehe.
Heidelberg, die Akademiker-Blase: zumindest heutzutage nicht gerade für seine wilde Subkultur bekannt. Selbst den Emmertsgrund als „Ghetto“ zu bezeichnen wäre, gelinde gesagt, übertrieben. „Eigentlich gibt es überhaupt keinen Grund, hier zu rappen“, sagt Martin Stieber, einer der Stieber Twins, Hip-Hopper der ersten Stunde. Wie es dann doch dazu kam? „Das lag ganz klar an den Amerikanern“, erklärt Stieber. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs machten sie Heidelberg zum Hauptquartier ihrer Landstreitkräfte in Europa, die Stadt war voller GIs: „Die kamen auf die Neckarwiese gefahren, mit fettem Soundsystem im Auto, und aus den Boxen dröhnte Rap-Musik. So was hatten wir noch nie gehört.“ Auf den deutsch-amerikanischen Volksfesten habe man die ganze Kultur leibhaftig mitbekommen, Rap, Breakdance. Torch, der allgemein als Vater der deutschen Rap-Musik gilt, habe nach einer Weile immer mehr Amerikaner kennengelernt und mit ihnen Musik gemacht. „Irgendwann hat er uns mitgenommen. Das kam alles durch ihn. Er hat dann auch als Erster angefangen, auf Deutsch zu rappen“, so Stieber. Ende der Achtzigerjahre gründete Torch zusammen mit Tony L und Linguist die Gruppe „Advanced Chemistry“, die sie zu Pionieren des deutschen Hip-Hops machte.
Heidelberg. Klein, beschaulich, wenig Ghetto-Potential. Und doch: die Wiege des deutschen Hip-Hops.
Stieber kam zum Hip-Hop, um etwas zu machen, das keiner macht. Ihn habe immer schon die Opposition gereizt – „deshalb bin ich auch kein Bayern Fan“ – und Hip-Hop sei damals eben genau das gewesen: eine Subkultur, etwas ganz Neues. „Heute ist das natürlich komplett umgekehrt. Mehr Mainstream geht nicht. Da unterhalten sich 50-Jährige bei der Arbeit über das neue Haftbefehl-Album.“ Hip-Hop wäre deshalb, so Stieber, heute wahrscheinlich nicht mehr seine Musikrichtung geworden. „Aber färb’ das jetzt bitte nicht negativ ein!“ Es sei gut, dass es weitergehe und durch den Mainstream entstünde schließlich auch eine viel größere Bandbreite. Er kennt sich aus mit aktueller Rap-Musik, schätzt sie. Die häufig beschworene „Feindschaft“ zwischen dem sogenannten „Gymnasiastenrap“ der ersten Stunde und dem Gangsterrap à la Aggro Berlin hält er deshalb auch für Unsinn. Das Publikum wolle eben Schubladen und dann sei „Hafti der Gangster und die Stieber-Twins die Bullen“. Im Grunde solle Rap doch aber authentisch sein, man rappe über das, was einen umgebe: „Unterschiedliche Lebenswelten führen dann eben zu unterschiedlicher Musik, sonst wäre es doch auch nicht mehr echt.“
Stieber, der inzwischen Inhaber des Ladens „The Flame“ in der Plöck ist, scheint mit seiner Rolle nicht zu hadern. Ganz im Gegensatz zu Torch, dessen Verhältnis zu Presse und Öffentlichkeit ein eher angespanntes ist. Seinen Auftritt in „Blacktape“ ließ er nachträglich sperren, sodass der Zuschauer nun an dieser Stelle auf eine schwarze Leinwand schaut. Dabei, so berichtet Falk Schacht, Protagonist des Films, habe Torch ursprünglich sogar im weißen Frotteebademantel für sie gebreakt, was man natürlich wahnsinnig gern gesehen hätte.
Die Geschichte des Heidelberger Hip-Hops ist groß. Für Einzelne, die nun wie Torch ein Erbe zu verwalten haben, vielleicht geradezu erdrückend groß. Doch wie steht es um die Gegenwart?
Ein Kaffee mit Max, Gründer von Tricky Stylez, einem gemeinnützigen Hip-Hop-Projekt aus Heidelberg, das versucht, Künstler miteinander zu vernetzen. Seit knapp fünf Jahren organisieren sie Partys (bis vor kurzem im nun geschlossenen „Häll“), auf denen sie DJs und MCs eine Plattform geben. „Nach dem Hype in den Neunzigern war da Anfang des Jahrtausends auf einmal dieses riesige Loch. Es gab hier einfach keine Plattform mehr für junge Künstler. Das wollten wir ändern“, erklärt Max. Es sei auch eine Art Gegenbewegung zur Entwicklung des deutschen Hip-Hops, weg von Kommerzialisierung und zurück zu den Ursprungsideen: den vier Elementen, Zusammenhalt, Respekt. Im Juli dieses Jahres kam die erste Platte der Gruppe heraus. Finanziert aus den Eintrittsgeldern der Partys, zwei Jahre habe das gedauert: „Wir wollten nicht, dass irgendwer ein finanzielles Risiko eingeht, deshalb haben wir es eben gemeinschaftlich finanziert. Trotzdem sollte es professionell sein, das kostet eben.“ Weit mehr als 40 Leute hätten unentgeltlich an dem Projekt mitgearbeitet. So läuft das mit dem Zusammenhalt.
Karlstorkino, Heidelberg, 2015. Zwei Männer stürmen die Bühne. Vermummt sind sie nicht, sehen im Gegenteil sehr froh und friedlich aus: „Wie schön hier zu sein, in der Geburtsstadt des deutschen Hip-Hops!“ Es ist die Heidelberger Filmpremiere von „Blacktape“, Sékou und Schacht sind zu Gast, um den Film vorzustellen. Das Publikum johlt, Hip-Hop-Prominenz der ersten Stunde ist gekommen. Fehlt nur – Tigon. Denn, so wird während der teilweise fiktionalen Dokumentation klar, es gibt ihn gar nicht. Genausowenig wie seinen skandalösen Auftritt in den Campbell Baracks. Das macht den Anfang der deutschen Hip-Hop-Geschichte natürlich weitaus weniger spektakulär. Die Musik jedoch nicht.
Von Anna Vollmer