Unfassbar intensiv und nachdenklich machend – eine Rauminstallation von atemberaubender Schönheit.
[dropcap]A[/dropcap]m 11. und 12. Dezember spielte die junge Theatergruppe RAMY unter der Leitung von Beata Anna Schmutz in Kooperation mit der Mannheimer Newcomer-Band CONE ihre Interpretation von Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ als Wiederaufnahme im Heidelberger Haus der Jugend.
Schon beim Betreten dieser Turnhalle, ein Raum so karg wie hoch, tritt man auf einen Klangteppich. Teppich ist eigentlich das falsche Wort, hat ein Teppich doch etwas Schweres, Bedeckendes. Nein. Hier ist es, als würde man angehoben – hinauf auf eine ganz dünne Wolke, aber ohne hindurch zu fallen. Sogar auf dem Fußboden vor der ersten Reihe sitzen Zuschauer. Es hat sich herumgesprochen, dass sich die folgenden 70 Minuten lohnen werden. Eine Hollywoodschaukel mit sechs Kissen vor einer riesigen Leinwand, ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein Computer, Schreibutensilien, ein Bildschirm mit stets geöffneter Facebookseite an der Wand und noch eine Leinwand. Lassen wir uns ein auf ein „Frühlings Erwachen“ – die Rezeption dessen, was zwölf junge Darsteller zwischen 14 und 20 Jahren in mehreren Monaten konzipiert, probiert und realisiert haben.
Zwei Türen fliegen auf und die in weiße Hemden, Jeansjacken und bizarre Plastikschuhe gekleideten Darsteller schmettern dem Zuschauer ein Pamphlet gegen das Erwachsenwerden entgegen. Es ist ein bisschen, als säße man in einem Stanley Kubrick Film. Ästhetisch und auf eine Art schaurig zugleich. Dazu spielt CONE, diese Mannheimer Band, die sich selbst als melodischer Schallverstärker für Entgrenzung, Trance und Geborgenheit beschreibt. Entgrenzung ist gleichsam der Leitsatz dieser Installation.
Nachhaltig beeindruckend ist der großzügige Einsatz von Muttererde. Erde als Referenz an das Entstehende, Erwachsende. Was erwächst in einem Jugendlichen, aus einem Jugendlichen, der erwachsen wird? Der zentrale Diskurs dieser Performance handelt natürlich vom Erwachsenwerden. Nicht mehr Kind sein. Sexualität entdecken. Den Stoff des Wedekind’schen Originals transportieren die Jugendlichen dabei in unsere Zeit. Ihre persönliche Lebensgeschichte in den Kontext ihrer Produktion setzend, mit Texten der 1993 geborenen Autorin Lea Langenfelder fusioniert, spielen die Jugendlichen des Ensembles ihr eigenes Frühlings Erwachen.
Das Ende des 19. Jahrhunderts von Frank Wedekind geschaffene Drama mit dem Untertitel „Eine Kindertragödie“ wurde 1906 in Berlin uraufgeführt. Im Mittelpunkt der Handlung stehen neben der vierzehnjährigen Wendla (Marie Haller), die aufgrund Unwissenheit ungewollt schwanger wird und an den Folgen einer illegalen Abtreibung stirbt, die Gymnasiasten Melchior, gespielt von Nicolas Hoffmann und Lukas Passos Schiemens als Moritz, der sich später erschießt; und deren individueller Umgang mit den Problemen der Pubertät und der damit unweigerlich verbundenen Frage nach der eigenen Identität und Persönlichkeit.
Neben der zuvor erwähnten Erde tauchen immer wieder die Elemente Luft (projizierte Wolken) und Wasser in unterschiedlicher Ausprägung und jedes Mal mit größter Finesse in dieser Installation auf. Da springen die Jugendlichen, zu sehen in einer Projektion, im Schwimmbad vom Sprungbrett ins Wasser. Unter Wasser scheinen sie zu schweben. Wieder schweben. Die Badeanstalt weckt zwangsläufig Assoziationen. Körper: Sich das andere Geschlecht anschauen, sich selbst den anderen zeigen. Aber eben auch vom Sprungbrett springen, sich etwas trauen, den anderen etwas beweisen. Und natürlich auch der Sprung ins kalte Wasser, den man zwangsläufig das eine oder andere Mal machen muss, wenn man erwachsen wird. Extrem fein konstruiert und dabei immer von CONE begleitet. Die fließenden musikalischen Übergänge und dazu der lichtgestalterische Wechsel von ganz hell zu ganz dunkel schaffen einen „Gänsehautraum“, sodass man bisweilen zwischendurch tief Luft holen muss. Mit CONEs Interpretation von Tocotronics „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ und „21, 22, 23“ von AnnenMayKantereit wählt das Ensemble ganz stereotype Titel dessen, was Jugendliche hören und was sie in gleichem Maße inhaltlich bewegt, womit sie sich identifizieren.
Ohne Zweifel steht diese Inszenierung ganz im Zeichen des postdramatischen Theaters. Melchior projiziert „seiner“ Wendla diesen nackten Menschen in der Badewanne auf den schwangeren Bauch. Wasser fließt über einen Regenschirm und junge Frauen pressen ihre Köpfe in mit Wasser gefüllte Schüsseln. Überall Hashtags – das Erkennungszeichen der Generation „Digital Native“. CONE spielt eine Version auf „Oops! … I Did It Again“ und die Figur Nina Va (in Anlehnung an die zuvor skandierte „Nina Vagina“), gespielt von Ella Knorz, tanzt dazu im Schulmädchenrock. Britney Spears als Ikone einer Generation. 90er Trash, aber nicht platt, sondern humoristisch reflektiert: Fantastisch!
Normalerweise wäre dies die Stelle zum Äußern von Negativkritik. Daran soll es diesem Text aber mangeln, was jedoch nicht daran liegt, dass ein Großteil der Darsteller minderjährig ist und man nett ist zu minderjährigen Schauspielern. Auf keinen Fall! Die Performance überzeugt ganz einfach.
Am Ende sitzen die Gestorbenen zusammen am Schreibtisch, die Band spielt „Die Erwachsenen“ von Tocotronic und wir schweben hinaus aus der Turnhalle. Das Ensemble tanzt im Freien vor der Halle und nimmt den Zuschauer via Projektion mit in dieses Lebensgefühl. Bei aller Ernsthaftigkeit der Thematik fühlt man sich zum Schluss ganz berauscht von dem, was man zuvor gesehen und gehört hat und dem generellen Erleben dieser Installation. In diesem Moment lässt die jugendliche Energie der Darsteller die verstreut über die gesamte Performance vorgetragenen „harten Fakten“ zur Situation von Jugendlichen vom Jahr 1900 bis 2015 in den Hintergrund treten. Das hat dann etwas Versöhnliches und fügt sich trefflich ins Gesamtkonzept der Performance.
Von Jamie Dau