Der Lebensstandard der Iren ist seit den 1990er-Jahren stark gestiegen – doch viele haben den Anschluss verloren. In der Hauptstadt Dublin ist Obdachlosigkeit allgegenwärtig.
Es ist kalt an diesem Morgen. Fröstelnd ziehe ich die Jacke ein wenig weiter zu und wende mich nach links, um entlang des Liffey Richtung Universität zu gehen. Ein paar Möwen setzen sich kreischend auf die Mauer, die Dublin vor den Gezeiten des Flusses schützt. Auf einer Bank an der Promenade liegt eine zusammengekrümmte Gestalt. 100 Meter weiter führt die Ha’penny Bridge über den Liffey – benannt nach dem Betrag, der für eine Passage zu entrichten war.
Eine Pappe gegen die weißen Geländerstäbe, eine auf dem Boden, sitzt jemand auf der Brücke, einen Pappbecher haltend. Auf der gegenüberliegenden Seite durch den Merchants’ Arch geeilt, jenen Durchgang, der die einstige Macht der Gilden repräsentierte. In der Temple Bar kommt eine Gestalt auf mich zu: „Change?“ Den Blick geradeaus gerichtet, murmle ich: „No, sorry.“ Bis ich das hölzerne Tor der Universität am College Green erreiche, werde ich mit antrainierten Scheuklappen auf diese Weise fünf Personen übersehen haben.
Es sind Menschen, die in den Augen der Passanten unsichtbar sind. Sie kauern in Hauseingängen, auf Pappen, um sich gegen die ärgste Kälte zu schützen. Schätzungsweise 5000 Obdachlosen gibt es in Irland. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand so genau. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sind es doppelt so viele wie in Deutschland. Wie kommt es, dass in Irland so viele nicht einmal das Mindeste haben?
Obdachlosen wird in Dublin viel Sympathie entgegengebracht. Schüler verteilen Sandwiches, Aktivisten sammeln Decken und warme Kleidung und helfen den Betroffenen, empfindlich kalte Winternächte zu überstehen. Die Student Union ruft zum „sleeping on the rough“ auf, zum Schlafen auf der Straße für eine Nacht. Was aktivistisch anmutet, zeigt, dass das Thema im Bewusstsein vieler Iren präsent ist, vielleicht unvermeidlich, weil Obdachlosigkeit im alltäglichen Leben ständig sichtbar ist. Obdachlose gehören zum Straßenbild von Dublin.
„Viele haben psychische Krankheiten oder sind abhängig“, sagt Niamh Glynn, die Soziale Arbeit am Trinity College Dublin studiert, „aber manche wurden auch einfach von ihrem Vermieter rausgeschmissen und finden beim besten Willen keine bezahlbare Wohnung.“ Niamh hat in einem Obdachlosenheim für Frauen gearbeitet. Es könne jeden treffen, meint sie, jung und alt, Mann und Frau.
„Seit der Krise hat die Obdachlosigkeit stark zugenommen“, sagt Niamh, „viele können sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten.“ Während des Celtic Tiger in den Neunzigern und bis Anfang der Zweitausenderjahre hat sich Dublin zu einer kulturellen, intellektuellen und wirtschaftlichen Metropole entwickelt, die so gar nicht zu dem Rest Irlands zu passen scheint. Das von andauernder Armut geprägte Land machte – vor allem in Dublin – einen Satz wie er vorher nur in den „Tigerstaaten“ Ostasiens zu beobachten gewesen war. Ohne Übergangsphase wurde im Hafenviertel Dublins ein internationales Finanzzentrum aus Glas und Stahl aus dem Boden gestampft.
Die Stadt verwandelte sich. Eine Straßenbahn verband nun das Zentrum mit den Vorstädten, man konnte alle Teile Dublins bequem erreichen. Mit dem Aufschwung kam gut bezahlte Arbeit, mit dem Einkommen stiegen die Mieten. Es ist die bekannte und oft beklagte Geschichte von Gentrifizierung und Verdrängung. Doch solange der Aufschwung anhielt, war das Schicksal erträglich, auch die nächste Mieterhöhung ließ sich noch irgendwie schultern. Das änderte sich mit Zusammenbruch der globalen Finanzindustrie, an der auch in Dublin viele Existenzen hingen.
Wird dieses konfuse Narrativ von Aufstieg und Niedergang der prekären Lage so vieler Menschen gerecht? Es bleibt schwer verständlich, warum Obdachlose keinen Halt fanden, auch wenn die äußeren Umstände widrig sind. Werden sie nicht engagiert unterstützt von Freiwilligen, die sie eben nicht ausgrenzen, sondern als dazugehörig empfinden? Doch trotz der Hilfsbereitschaft einiger wird Obdachlosigkeit in Irland – wie überall – stigmatisiert: „So etwas passiert nur Taugenichtsen, Tagträumern, Alkoholikern, Drogen-Junkies.“ Die Lage wird dann schwierig, wenn Betroffene mit eben solchen Vorurteilen konfrontiert werden.
Auch auf dem nachlässigen, handgeschriebenen Mietvertrag des Autors finden sich die unverdächtigen Worte „no rent allowance“ neben der überhöhten Gebühr. Wer also seine Miete vom Staat erstattet bekommt, ist nicht willkommen. Landlords sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, die staatliche Rentenbeihilfe zu akzeptieren. Die paradoxe Situation: Arm zu sein ist teuer. Selbst wer eine Kaution vorweisen kann – was oft genug nicht der Fall ist –, aber auf Hilfe angewiesen ist, wird abgewiesen. Als Alternative bleibt nur das letzte Geld für ein, zwei Nächte in einer Herberge zu opfern. Und der Teufelskreis beginnt von Neuem.
Nicht nur in Dublin, auch in ländlichen Gebieten existiert Obdachlosigkeit und dort ist es noch schwieriger, mit dem Problem umzugehen. Die Gemeinden sind klein, das Stigma ist vernichtend. Das Vorurteil ist eine seltsame Mischung aus Versagen von Individuum und Familie. Im Neoliberalismus kann nicht nur jeder etwas aus sich machen, sondern muss es eben auch. Gleichzeitig führt das traditionelle Familienbild des katholischen Irland dazu, dass die Einzelschuld auch kollektive Schuld der Familie bedeutet.
Niamh erzählt von ihren Erfahrungen aus dem Obdachlosen-Hostel: „Ich habe schnell gemerkt, dass alle Bewohner Frauen sind, die sich nicht von mir oder anderen unterscheiden. Es sind Frauen, die eine harte Zeit durchmachen und ihr Bestes tun, das zu ändern. Dabei schaffen sie es, sich ein Lächeln zu bewahren und dafür bewundere ich sie. Was die meisten brauchen, ist jemanden zum Reden oder der ihnen hilft, Dinge zu organisieren. In dem Haus leben die Bewohner ziemlich eigenständig, sie sollen sich dort zu Hause fühlen.“ Würde jeder, der Hilfe sucht, ein Dach über dem Kopf bekommen? „Nein, dazu gibt es zu wenige Hilfseinrichtungen, zu wenige Sozialarbeiter.“
Ich gehe abends vorbei an der Statue von O’Connell. An einem Tapeziertisch wird warme Kleidung an Bedürftige ausgehändigt. Es herrscht eine routinierte und unaufgeregte Stimmung. Nur wenige Meter weiter biege ich ein auf die Henry Street. Die aufwendige Beleuchtung, die über der Einkaufsstraße zu Weihnachten angebracht war, wird gerade wieder abmontiert. Die großformatigen Fotografien in den Schaufenstern zeigen eine makellose Welt. Doch den Makel kann kein PR-Mensch wegretouchieren. Diejenigen, die sich kein Dach über dem Kopf leisten können, harren aus neben den Produkten, die Glück versprechen.
von Jonas Peisker aus Dublin, Irland