Marokko ist ein vielseitiges Land. Das lässt sich nicht nur in den Städten beobachten, sondern auch auf den Tellern.
[dropcap]A[/dropcap]uf den ersten Blick ist Marokko vor allem eines: Hektisch. Zahllose Menschen wuseln durch die Städte – zu Fuß, auf Mopeds und mit Eselskarren. Ständig wird man als Tourist angesprochen: „Where do you come from? Do you need a hotel?“ Dazu die abgestandene Luft der engen, dunklen Gassen der Medinas und die Geräuschkulisse aus Hupen, Händlern und Straßengauklern. Feilgeboten werden allerhand Waren: Von hochwertigen handgefertigten Lampenschirmen über billige Souvenirs und gefälschte Louis-Vuitton-Taschen. Man kommt mit den Augen kaum hinterher, zumal man gleichzeitig auf den nicht abreißenden Verkehrsstrom achten muss.
Wie in einer anderen Welt fühlt man sich dann, wenn man von den engen Sträßchen durch eine Haustür tritt und die Stille der dicken Steinmauern genießen kann. Die Riads – so nennt man die typischen Gebäude, die um einen Innenhof angelegt sind – wirken wie eine Oase der Ruhe. Durch die Architektur dieser Wohnhäuser ist es erstaunlich kühl, oft steht ein Zitrusbaum im Hof, ein Brunnen plätschert. Auf den ausgebauten Dachterrassen kann man im Sommer kühl schlafen und im Winter den Ausblick auf die Minarette und das rege Treiben unter einem genießen.
Diese Kontraste, Hektik und Gelassenheit, finden sich auch in der kulinarischen Welt Marokkos. Es gibt an jeder Straßenecke Stände, an denen man schnell für ein paar Dirham köstliche Speisen kaufen kann: regionales Gemüse, dampfende Brote, frisch gepressten Orangensaft. Die Qualität der angebotenen Lebensmittel ist dabei fast ausnahmslos überragend und man erhält einen authentischen Einblick in die gastronomischen Gepflogenheiten.
Doch auch hier dominiert der schnelle Genuss: Entweder läuft man mit den Einkäufen direkt weiter oder man setzt sich auf die schmalen Bänke der Garküchen. Beim Hinsetzen wird bestellt und wenige Augenblicke später stehen eine Portion gedämpfte Muscheln, gebratene Kichererbsen oder gegrilltes Fleisch vor einem auf dem Tisch. Ganz im Gegensatz dazu verhält es sich, wenn man von einem Marokkaner zum Tee eingeladen wird. Thé à la menthe, grüner Tee mit büschelweiser frischer Minze, hat in Marokko eine Bedeutung wie kein anderes Getränk. Man bekommt ihn zum Frühstück, zwischendrin, nach dem Abendessen, als Begrüßung, eigentlich immer. Das Nationalgetränk wird dabei nicht einfach getrunken – zunächst wird er auf traditionelle Weise und mit viel handwerklichem Geschick kredenzt. Aus den schweren silbernen Kannen wird er in hohem Bogen in ein winziges Gläschen geschüttet. Das sieht beeindruckend aus und ist wichtig für den späteren Genuss: Wie Wein wird der Tee so oxidiert. Das erste und zweite Glas wird dann aber wieder zurück in die Kanne verbracht, damit der Tee sich etwas abkühlt und der viele Zucker sich gut darin auflöst. Hat dann schließlich jeder ein Glas vor sich stehen, wird geplaudert und dabei in aller Ruhe der „moroccan whiskey“ geschlürft.
Ähnlich viel Geduld muss man bei der Zubereitung der Tajine aufwenden. Das Gericht, das man vermutlich in jedem Restaurant in Marokko bestellen kann, ist ein traditionelles Schmorgericht. Der Name benennt dabei eigentlich die tönerne Form, vergleichbar mit einem Römertopf, in dem die Zutaten stundenlang garen. In der Form serviert werden dann heiß blubbernde Lammfleischstücke mit Mandeln und Aprikosen oder Couscous mit Zucchini und Kürbis: Ein vielseitiges Gericht, das durch die vielen orientalischen Gewürze zwar immer irgendwie bekannt, aber nie gleich schmeckt.
Marokko ist ein großes Land – je nachdem, ob man an der Mittelmeerküste, in der Sahara oder im Atlas-Gebirge bekocht wird, variieren die Gerichte und deren Zubereitung genauso stark wie die jeweiligen Landschaften: In den Küstenorten am Atlantik und Mittelmeer ist seit Jahrhunderten der Seehandel eine große Einnahmequelle. In der hiesigen Küche dominieren dementsprechend Meeresfrüchte, die man ganzjährig fangfrisch erhält. In der Sahara hingegen lebt man noch heute wie vor hundert Jahren, Kamele sind das am besten geeigneteste Transportmittel durch die Sanddünen, in denen man nur per Satellitentelefon mit dem Rest der Welt verbunden ist. Dort findet man auch immer wieder Kamelfleisch in den Kochtöpfen, das übrigens sehr ähnlich wie Rind schmeckt.
Marokko ist ein facettenreiches Land, mit vielen Bevölkerungsgruppen und Traditionen. Das Ergebnis ist vor allem kulinarisch spannend, denn enttäuscht vom Tisch aufstehen wird man bestimmt nirgendwo.
Von Johanna Famulok aus Marokko