Zahlreiche Gläubige suchen in Jerusalem jeden Tag die Nähe zu ihrem Gott. Doch übersteigerte Hoffnungen treiben viele Pilger in den Wahnsinn.
[dropcap]E[/dropcap]s ist wirklich schwer, einen Ort mit mehr heiligen Stätten von unterschiedlichen Religionen zu finden als Jerusalem. Grabeskirche, Westmauer und Felsendom sind für Christen, Juden und Moslems jeweils heilig. Jedes Jahr pilgern tausende Menschen in die Hauptstadt Israels. Viele kehren mit guten persönlichen und spirituellen Erfahrungen wieder nach Hause zurück. Manche sind durch die Hitze und die ständigen Sicherheitskontrollen genervt. Und manche finden sich als Messias, Johannes der Täufer oder Maria an den heiligen Stätten predigend wieder.
Diese Menschen gehören zum Bild der Altstadt dazu. Gerade um die hohen religiösen, christlichen und jüdischen Feiertage herum, sieht man Pilger, die sich ein schlichtes weißes Gewand übergeworfen haben. Sie predigen auf dem Vorplatz der Westmauer oder in der Nähe der Grabeskirche. Was zunächst einmal wirkt wie eine historische Stadtführung oder ein mit Theaterelementen ausgestatteter Gottesdienst, ist eine psychische Krankheit: das sogenannte Jerusalem-Syndrom.
Die Krankheit tritt bei christlichen und jüdischen Pilgern in Jerusalem auf; über die Zahl der Betroffenen mit muslimischem Glauben ist wenig bekannt. Die Betroffenen haben nicht zwangsläufig eine Vorgeschichte mit psychischen Erkrankungen. Die Gründe für das Auftreten des Jerusalem-Syndroms sind, wie bei den meisten psychischen Erkrankungen, noch nicht endgültig geklärt.
Vermutet wird allerdings, dass ein Zusammenhang zwischen den hohen Erwartungen an die Pilgerreise und der Krankheit besteht: Oft malen sich die Pilger bei den Reisevorbereitungen aus, wie wunderschön die Stadt, der Kreuzweg und die Grabeskirche sein werden. Die Orte werden dabei völlig überhöht. Der Kreuzweg ist in der Vorstellung der Pilger gesäumt von alten Olivenbäumen, die Grabeskriche von andächtiger Stille erfüllt und im Grab selbst spürt der Gläubige Gott zum Greifen nah.
Die Wirklichkeit der Stadt sieht dann aber ganz anders aus. Die Innenstadt unterscheidet sich kaum von einer modernen europäischen Großstadt: Es ist laut, schmutzig und es gibt viele Menschen, die sich in den Straßen drängen. Wegen der angespannten Sicherheitslage muss man durch viele Kontrollen und sieht überall Polizei oder Militär. Der Kreuzweg selbst läuft durch die Altstadt, in der Händler versuchen Souvenirs zu verkaufen und wo sich viele Menschen auf dem Weg zu ihren alltäglichen Geschäften an einem vorbei drücken. Von der prophezeiten Heiligkeit der Stadt ist kaum mehr etwas zu spüren. Konfrontiert mit dieser Realität bekommen etwa 100 Pilger im Jahr eine akute und vorübergehende psychotische Störung.
Diese äußert sich vor allem in Wahnvorstellungen. Die Betroffenen identifizieren sich völlig mit einer religiösen Gestalt aus der Bibel. In der Regel ist das eine der Hauptpersonen im Alten Testament: etwa Moses oder König David im Neuen Testament, Johannes der Täufer, Paulus oder sogar Jesus persönlich. Da wird dann schnell das Bettlaken aus dem Hotel zur Tunika umfunktioniert und die Betroffenen laufen singend, betend oder predigend durch die Altstadt; in der Regel in der Nähe der heiligen Stätten. Auch das Tragen von Jesus-Sandalen oder exzessives Waschen gehören zu den Symptomen.
Doch es sind keineswegs nur Männer betroffen. Auch Frauen verwandeln sich in Gestalten des Alten oder Neuen Testaments. Es wird sogar davon berichtet, dass eine Frau ihr Kind in der Geburtskirche in Bethlehem entbinden wollte. Sie hielt sich für die Jungfrau Maria und war überzeugt, den Retter der Welt zu gebären.
Reiseführer, Jerusalemer Polizei und die Verantwortlichen an den heiligen Stätten kennen die Symptome und rufen gegebenenfalls einen Krankenwagen. Auch erklären Reiseleiter Pilgergruppen das Phänomen und versuchen die Mitglieder der Gruppe für die Symptome zu sensibilisieren, um früh helfen zu können, wenn sich ein Moses oder Paulus in ihren Reihen findet. Ein erstes Anzeichen ist dabei häufig, dass sich die Person von der Gruppe isoliert und anfängt sein Äußeres zu verändern, indem er sich zum Beispiel einen Bart stehen lässt.
Doch was geschieht nun mit den Betroffenen? Im Jerusalemer Herzog-Memorial-Hospital gibt es eine Station, die sich nur diesem Syndrom widmet. Die beiden Psychiater Eliezer Witztum und Moshe Kalian kümmern sich dort um die Erkrankten und helfen ihnen den Weg zurück in die Realität zu finden. Dabei werden sie häufig von Freiwilligen aus der ganzen Welt unterstützt, die in die Muttersprache des Patienten übersetzen, um überhaupt einen Kontakt zu ihm zu bekommen. Die meisten Patienten werden nach der oft wochenlangen Behandlung wieder stabil.
Das Problem, dass ihre Stadt psychotische Episoden auslösen kann, hat übrigens nicht nur Jerusalem. Auch in Paris gibt es ein ähnliches Phänomen, bei dem hauptsächlich japanische Touristen in einen Zustand krankhafter Verliebtheit fallen. Doch obwohl die Stadt auf bestimmte Menschen eine seltsame Wirkung hat, lohnt es sich Jerusalem zu besuchen. Nicht nur die heiligen Stätten sind beeindruckend, sondern auch das leckere Essen und die vielen unterschiedlichen Menschen, bei denen vielleicht auch mal ein Messias dabei ist.
von Esther Lenhardt aus Jerusalem, Israel