Schwereloser Wankelmut: „Borderline“ eröffnet die zweite Heidelberger Tanzbiennale.
[dropcap]E[/dropcap]in Mann sagt „Je t’aime“ zur einen Reisschüssel, ein zweiter Mann sagt „Ich hasse Dich“ zur zweiten Reisschüssel. Die Energie fließt. Genießbar bleibt der Reis durch sie, durch Liebe vier Wochen, durch Hass eine Woche. Ein Drittes gibt es nicht? Schon. Aber der dritten Reisschüssel wird keine Aufmerksamkeit geschenkt. Und dadurch erhält sie keine Energie. Nach nur einem oder zwei Tagen verdirbt der Reis. „Borderline“ lautet der Titel des Gastspiels der Tanzcompagnie Wang Ramirez, Auftakt zur zweiten Heidelberger Tanzbiennale. Die Reisschüsselparabel, vorgetragen vom Duo Mustapha und Louis, beschreibt in Worten, was die Inszenierung sonst nur durch den Fluss der Körper vermittelt.
Subtil spiegelt sich die namensgebende Thematik in den Szenen wider. Von Borderline betroffene Menschen kennzeichnet vor allem die Unfähigkeit, stabile zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Von anfänglicher Idealisierung stürzen sie bald in bittere Abwertung. Von unsichtbaren Banden gezogen, von Hand verstoßen, das Schwingen zwischen Nähe und Distanz pendelt sich entsprechend durch die Szenen.
Bleiben die Figuren weitestgehend sprachlos, so greift die zentrale Szene doch zu Worten – und spricht das Offenkundige aus: Nur die Extreme, Liebe und Hass, können gelebt und vor allem gespürt werden. Der Zwischenraum bleibt unbeachtet. Nicht negiert wird die Existenz eines dritten Zustandes, wohl aber seine Unerträglichkeit greifbar. Darin verdeutlicht sich die innere Labilität von Betroffnen, die jedoch zugleich auf beeindruckende Art vermögen, ihr Umfeld von sich einzunehmen.
Und auch hier: Keck im mädchenhaften Röckchen, komisch wie die Tänzerinnen ihre Unterleibe provokant nach vorne strecken, storchenhaft staksend auf ihren High Heels – und legen schon eine einwandfreie Breakdance Choreographie auf die Bühnenbretter. Ein Schrei durchbricht den hellen Schein und kippt in tiefe Dunkelheit. Schon wähnte man sich im leichten Tanz, da bricht die Fassade zusammen.
Die Tanzcompagnie Wang Ramirez um Honji Wang und Sébastien Ramirez bringt eine Mischung aus Hip-Hop, Akrobatik und zeitgenössischem Tanz auf die Bühne. Die Musikkomposition ist untermalt von Interviewfragmenten, welche die Choreographen mit ihnen nahestehenden Personen führten. Es geht um polizeiliche Übergriffe, Ungerechtigkeit und Armut. Doch bleibt die Inszenierung dabei überraschend leicht. Koreanische und griechische Kostümierung sowie tänzerische Elemente vervielfältigen das bereits reiche Repertoire. Der Einsatz von Rigging, einer Bühnentechnik, bei der durch Seilkonstruktionen Schwebezustände erzeugt werden, eröffnet der Choreographie neue Räume. Die Schwerelosigkeit kann zwar bodenlose Verzweiflung bedeuten, haucht aber ebenso magische Freiheit über die Bühne. Feengleich schwebt die Tänzerin zuletzt über ihrem Verehrer. So nah am ersehnten Kuss, entweicht sie ihm doch stets in unerreichbare Ferne. Spiel oder Ernst? Beglücktes Ende: Hand in Hand verschwinden die Geliebten im Dunkel. Vermag es währen? Bis zur nächsten Grenzüberschreitung.
Die deutsch-französische Tanzcompagnie eröffnete mit ihrem Gastspiel die Heidelberger Tanzbiennale. Zum zweiten Mal wird diese von der Tanzallianz, einer Kooperation des städtischen Heidelberger Theater und Orchester mit dem Unterwegstheater aus der freien Szene, ausgerichtet. Vom 22. bis 31. Januar stehen neben Gastspielen von internationalen Compagnien regionale und lokale Künstler auf dem Programm.
Weitere Informationen unter www.tanzbiennale-heidelberg.de.
von Margarete Over