Immer mehr Studenten nehmen Flüchtlinge in ihrer Wohngemeinschaft auf. Wie funktioniert Integration duch Zusammenleben? Zu Besuch in einer Heidelberger WG.
[dropcap]A[/dropcap]ufrecht saß Muhannad am großen runden Küchentisch, ganz vorne an der Kante des Stuhls, als er im Februar 2014 die Wohnung im Dachgeschoss erstmals besuchte. Eingepackt in eine dicke Winterjacke, den Rucksack die ganze Zeit auf den Rücken geschnallt, wusste er nicht, was ihn erwarten würde. Über eineinhalb Jahre war er da schon in Deutschland, lebte in einer Sammelunterkunft für Asylbewerber, teilte sich manchmal mit sieben, manchmal mit zwölf Personen ein Zimmer. Doch nun hatte er die Gelegenheit: seine eigenen vier Wände, das Zusammenleben mit Deutschen, die Möglichkeit endlich anzukommen in diesem immer noch fremden Land.
„Ich konnte damals kein einziges Wort Deutsch sprechen“, sagt Muhannad heute. Wieder sitzt er aufrecht am Tisch, trinkt seinen Tee aus einem Glas und lächelt. „Du hast uns schon ganz gut verstanden“, widerspricht Jonas, Muhannads Mitbewohner. Angebrochene Rotweinflaschen stehen auf der Mikrowelle in der Küche, das Regal ist vollgestellt mit allerhand Nützlichem und Unnützlichem, auf der Waschmaschine stehen Blumen, die Muhannad einmal die Woche kauft. Jonas hat in Heidelberg Medizin studiert und arbeitet seit Sommer in der Kinderklinik. Er sei der „WG-Opa“, scherzt er, sieben Jahre wohnt er schon hier in der Hauptstraße, etwas länger als Andreas, der ebenfalls Medizin studiert hat und derzeit an seiner Doktorarbeit schreibt. Die Vierte am Tisch, Lea, macht eine Ausbildung zur Krankenschwester an der Uniklinik und zog nach Muhannad ein.
Vor fast vier Jahren ist Muhannad aus Syrien geflohen, als der Bürgerkrieg auch seine Heimatstadt Aleppo erreichte. Er teilt das Schicksal mit hunderttausenden von Flüchtlingen, die besonders im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind. Ihnen steht noch bevor, was Muhannad schon hinter sich hat: die Suche nach einer dauerhaften Bleibe. Immer mehr Deutsche nehmen dabei Flüchtlinge bei sich zu Hause auf, auch viele studentische WGs sind darunter.
Dass Muhannad überhaupt in die Hauptstraße ziehen konnte, war zunächst eine Verkettung glücklicher Umstände: ein Mitbewohner der WG wollte ausziehen, über eine Freundin kam der Kontakt zu einem ehrenamtlichen Helfer zustande, der Wohnungen für Flüchtlinge sucht, dieser wiederum fragte die WG, ob sie sich vorstellen könnten, Muhannad aufzunehmen.
„Wir haben etwas länger diskutiert, ob wir das machen wollen“, sagt Jonas. Zu dritt haben sie sich damals besprochen, Bedenken geäußert und wieder beiseite gewischt: „Wir hatten einfach Respekt vor der Situation“, gibt Andreas zu. Schließlich wussten sie fast nichts über Muhannad: Woher kommt er? Wie ist das mit dem Alkohol? Wie mit dem Schweinefleisch? Braucht er einen eigenen Kühlschrank? Kann man noch halbnackt durch die WG laufen? Wird er Probleme mit den Partnerinnen haben? Letztlich wollten sie aber rauskommen aus ihrer eigenen „Bequemlichkeit“: „Wir haben den Raum, wir reden viel darüber und haben auch politisches Interesse“, schildert Jonas. Auch die Erfahrungen mit zahlreichen Erasmus-Studenten sprachen dafür.
Das erste Treffen mit Muhannad zerstreute dann fast alle Vorbehalte: „Es war gleich klar, dass Muhannad richtig Lust hatte, es ihm nicht nur darum geht, Wohnraum zu haben, sondern er auch zusammen wohnen will“, meint Jonas. Zudem hatte Muhannad als Jeside keine Probleme mit religiösen Essgewohnheiten und Alkoholkonsum.
Solche Geschichten hört Tim Schwenke gerne. Er ist Sozialpädagoge und Mitarbeiter des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche. Dort koordiniert er das Projekt „Mov’in Heidelberg“, das Flüchtlinge bei der Wohnungssuche unterstützt und sich um die ehrenamtliche Begleitung kümmert. „Mov’in Heidelberg“ wird in erster Linie dann aktiv, wenn ein Asylbewerber nach 24 Monaten aus seiner Gemeinschaftsunterkunft auszugsberechtigt ist und vom Sozialamt aufgefordert wird, sich Wohnraum zu suchen.
Das Projekt hilft nun dem Asylbewerber bei der Wohnungssuche mit einer ehrenamtlichen Betreuung. Die besondere Schwierigkeit in Heidelberg: „Um eine Wohnung für Asylbewerber oder Flüchtlinge hier zu finden, braucht man einen langen Atem oder sehr viel Glück. Einige haben nach drei Wochen eine Wohnung gefunden, einige suchen seit einem dreiviertel Jahr.“ Die Stadt verfügt einfach über zu wenige Wohnungen im Niedrigpreissektor.
Wie viele studentische WGs in letzter Zeit einen Flüchtling aufgenommen haben, weiß Schwenke nicht – „Es sind auf jeden Fall nicht genug.“ Auch ein gestiegenes Interesse in den letzten Wochen und Monaten konnte er nicht ausmachen. Neben der Bereitschaft einen Flüchtling aufzunehmen, müssten vor allem zwei Faktoren stimmen: Die Zustimmung des Vermieters und der Mietpreis für ein Zimmer, der vom Sozialamt gezahlt wird. Unter Berücksichtigung von Wohnungslage, Zimmergröße, Mitbenutzung von Bad und Küche, definiert das Sozialamt, wie teuer eine Wohnung sein darf. Diese bürokratischen Hürden könnten für viele WGs ein Hindernis sein, gesteht Schwenke ein, aber die Idee des Projektes sei es auch, bei Behördenangelegenheiten zu helfen.
Probleme mit der Bürokratie gab es auch in Muhannads WG. Nachdem der Mietvertrag aufgesetzt und alle Formulare ausgefüllt waren, monierte das Jobcenter, dass das Zimmer zu klein sei. „Letztlich konnten wir das aber mit dem Jobcenter doch noch klären“, erinnert sich Jonas. Mit einem Rucksack und zwei Lidl-Tüten zog Muhannad wenige Tage nach dem ersten Treffen in die WG ein. Erst einmal galt es für ihn, sich auf das bis dahin unbekannte WG-Leben einzustellen: „Es war alles sehr komisch. Ich hatte keine Ahnung, wo ich bin. Es war eine andere Welt, eine andere Kultur, eine andere Sprache, es war einfach alles neu.“ Seine Mitbewohner berichten Anekdoten: Dass er anfangs seine Lebensmittel und Küchenutensilien in seinem Zimmer verstaute. Dass er immer zu Monatsbeginn ängstlich nachfragte, ob das Jobcenter auch die Miete überweise. Dass er dachte, Jonas’ Freundin sei dessen Schwester.
„Es ging gleich darum, das Ganze zu öffnen, dass Muhannad dazu stößt, wenn wir mit Freunden kochen oder weggehen“, sagt Jonas. Auch in den Putzplan wurde er natürlich integriert. Die Zurückhaltung bei Muhannad wich zunehmend, allein mit der Sprache haperte es manchmal, erzählt Andreas: „Du hast im Zweifel eher ja gesagt, als zu sagen, dass du es nicht verstanden hast.“
Ursprünglich kommt Muhannad aus Aleppo. Dort wuchs er auf, studierte in einem Fernstudium BWL und arbeitete in einem Autohaus, wo er für die Buchhaltung zuständig war. „Alles war in Ordnung“, sagt er, bis im Frühjahr 2012 der Bürgerkrieg auch in den Nordwesten Syriens kam. Kurz danach wurde er zur Armee einberufen, in einem Monat werde man ihn holen, hieß es in einem Brief. Eine Woche später entschied er sich, aus Syrien zu fliehen. Am 15. Juni 2012 verließ er sein Heimatland, ging zuerst in die Türkei und gelangte mit einem Boot nach Griechenland. Eineinhalb Monate überlegte er sich wie es weitergehen solle; eigentlich wollte er nach Großbritannien oder in die Schweiz, dort könnte es sich gut leben lassen, dachte er. Dass es letztlich Deutschland wurde, lag an seiner Familie. Hier hätten sie Freunde und Verwandte, getroffen hat er sie bis heute nicht. Wie er nach Deutschland gekommen ist? „Es gibt viel Mafia in der Türkei und Griechenland. Du musst einfach nur in ein Café gehen, sagen du möchtest nach Deutschland fahren, schon kriegst du eine Telefonnummer und wirst in ein Büro geschickt.“ Mit einem LKW fuhr er dann von Griechenland direkt nach Deutschland. 9500 Euro habe die Reise gekostet, finanziert aus eigenen Ersparnissen und Geld seiner Eltern.
Am 28. August kam er in Deutschland an. Zunächst ging es für ihn nach Karlsruhe in eine zentrale Erstaufnahmestelle, von dort wurde er an eine Asylbewerberunterkunft in Hardheim weitergeleitet. In Hardheim wartete er auf seine Aufenthaltserlaubnis, die er im November 2013 erhielt. Momentan verfügt er über einen Aufenthaltstitel für mindestens drei Jahre.
Muhannad erzählt das alles ruhig und bedächtig, seine Mitbewohner korrigieren ihn nur, wenn er „mit dem Boden“ statt „mit dem Boot“ sagt, helfen ihm bei Begriffen wie „Aufenthaltstitel“. Auch für sie ist der Krieg in Syrien durch Muhannads Berichte ein Stück näher gekommen: „Wir saßen hier auch schon abends mit einer Karte und haben geschaut, was gerade in Syrien los ist. Muhannad hat uns dann erklärt, in welchen Bereichen welche Bevölkerungsgruppe lebt und Sachen erzählt, die ich über die Nachrichten gar nicht nachvollziehen kann“, schildert Lea. „Man ist emotionaler involviert, wenn neben dem Haus von Muhannads Familie eine Bombe einschlägt. Nach der Tagesschau vergisst man das gleich wieder.“ Während zwei seiner Brüder ebenfalls den Weg nach Deutschland angetreten haben, leben noch Muhannads Eltern, zwei weitere Brüder und drei Schwestern in Syrien. Wenn es die Verbindung zulasse, telefoniere er alle zwei, drei Monate mit ihnen.
Die WG ist sich einig, dass die Wohnsituation mit einem Flüchtling nicht schwieriger ist als mit einem anderen Mitbewohner. Natürlich habe man versucht mit Muhannad auch ein bisschen Deutsch zu lernen, ihn in anderen Dingen zu unterstützen. „Wir wollten aber vor allem zusammen leben, Spaß haben, diskutieren, das ganz normale WG-Leben eben. Muhannad soll kein Sozialprojekt sein“, so Jonas. Letztlich funktioniere es wie in jeder WG auch: Es braucht einen gemeinsamen Nenner, was Sauberkeit und Kommunikation angeht.
Dem kann Tim Schwenke nur zustimmen: „Es kommt auf die individuelle Lebenssituation an und gar nicht so sehr, ob es ein Flüchtling ist oder nicht.“ Klar gebe es Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede, jede WG sollte sich daher fragen, ob sie diese „Bereicherung“ wolle oder nicht. Dabei muss es gar nicht ein unbedingt harmonisches Zusammenleben sein: „Auch eine Zweck-WG kann schon helfen“. Alle redeten von langfristiger Integration. „Wohnen ist ein sehr praktischer Teil, um das umzusetzen“, macht Schwenke klar.
Bei Muhannad hat dies funktioniert. Vor allem in Heidelberg sei er sehr glücklich, eine „wirklich nette Stadt“. Allein er selbst sei gerade „ein bisschen durcheinander“. Seinen B2-Deutschkurs hatte er vor Weihnachten beendet, die Prüfung allerdings nicht bestanden. „Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergeht.“ Sein Fernstudium musste er abbrechen, sein syrischer Schulabschluss wurde hier nur als Realschulabschluss anerkannt, so bekam er auch keine Hochschulzugangsberechtigung. Will er aber mit bald 29 noch einmal die Schulbank drücken? „Momentan glaube ich, dass es besser ist, zunächst eine Arbeit zu finden und anschließend zu studieren.“
Von Michael Graupner