Eine Hütte steht in Wyoming. Drinnen sitzen acht skrupellose, gefährliche Menschen, jeder hat ein Ziel, für das er nichts und niemanden schonen wird. Natürlich traut keiner dem anderen. Draußen tobt eine weiße Hölle. Und auch drinnen wird, wie wir es bei einem Tarantino-Film schon ahnen, bald eine Hölle losgehen – eine eher blutrote, fluchende, herumschreiende.
Achtung, Spoiler!
Quentin Tarantinos „The Hateful Eight“ ist in die Theater gekommen. Dem Titel entsprechend ist es sein achter Film. Er ist mit drei Stunden auch sein längster. Tarantino lässt sich anfangs ausgiebig Zeit bei der Einführung der Charaktere und dem Aufbau der Beziehungen zwischen ihnen, doch dann, in der zweiten Hälfte, nimmt der Film plötzlich an Fahrt auf, und ehe es einem bewusst wird, stürzt man mit den acht Abscheulichen ins Chaos – blutig, schräg und unverschämt wie es sich gehört.
Wir befinden uns im Westen der USA, einige Jahre nach dem Bürgerkrieg. In einem sich langsam aufbrausenden Schneesturm treffen zwei Kopfgeldjäger aufeinander. Der eine ist Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson), in Besitz der Leichen von drei Verbrechern. Der andere ist John Ruth, „Der Henker“ (Kurt Russell), der Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) gefangen hält, welche ein Kopfgeld von 10 000 Dollar wert ist. Fest entschlossen, den Gewinn selbst einzukassieren, lässt Ruth nur ungern Warren in seine Kutsche einsteigen. Während die Männer auf der Hut voreinander sind und Domergue immer wieder versucht, die beiden zu provozieren, stoßen die drei auf einen neuen Weggefährten. Es ist Chris Mannix (Walton Goggins), ein ehemaliger Soldat der Konföderierten. Die beiden Kopfgeldjäger sind ihm gegenüber misstrauisch, nehmen Mannix jedoch trotzdem auf, da dieser behauptet, der neue Sheriff von Red Rock zu sein. Zwischen Warren und Mannix, die im Bürgerkrieg für gegensätzliche Ziele gekämpft hatten, baut sich eine gefährliche Feindseligkeit auf. Währenddessen wird der Schneesturm stärker und stärker. Schließlich sind die vier Reisenden und ihr Kutscher gezwungen, an der Herberge „Minnie’s Haberdashery“ Schutz zu suchen, bis sie, vermutlich erst in ein paar Tagen, weiter nach Red Rock fahren können. In der Herberge finden sie jedoch nicht die gastfreundliche Besitzerin Minnie und ihr Team vor, sondern den Mexikaner Bob (Demian Bichir), der vorgibt, die Bude zu managen, während Minnie ihre Mutter besucht. Außerdem sitzen in der Herberge der englische Gentleman Oswaldo Morbray (Tim Roth), der als Henker durch die Dörfer des Westens zieht, der Cowboy Joe Gage (Michael Madsen), der über Weihnachten seine Mutter besucht und Sandy Smithers (Bruce Dern), ehemaliger General der Konföderierten.
Die Handlung vollzieht sich nun in dieser kleinen, gemütlichen Herberge. In dem eng begrenzten Raum bilden sich immer wieder neue, schnell wechselnde, subtile Kameradschaften und explosive Feindseligkeiten unter den acht Menschen. Mal wird Domergue von ihrem Entführer ins Gesicht geschlagen, mal schaufeln sie nebeneinandersitzend den goldbraunen Eintopf in sich hinein. Mal zerschlägt Ruth die Gitarre, auf der Domergue spielt, mal stehen die beiden mit dem Rücken zum Zuschauer an der sich wegen des Sturms ständig öffnenden Tür der Hütte und nageln diese gemeinsam zu. Warren gesellt sich zu dem mürrischen General Smithers, der sich zuvor weigerte, mit einem „Nigger“ beisammen am Tisch zu sitzen; im nächsten Augenblick erzählt Warren davon, wie er den Sohn von Smithers gefangen nahm, missbrauchte und folterte. Die ganze Zeit schwebt außerdem der Verdacht im Raum, dass einer der Männer nicht der sei, der er zu sein behauptet, sondern mit Domergue verbündet sei und nur darauf warte, alle zu töten und sie zu befreien. Mit dem Schwerpunkt auf extremen, sich teilweise ins Ironisch-Komische verschiebenden Spannungsverhältnissen der Charaktere und den zu einem Minimum herabgestimmten Einflüssen von Raum und Zeit nimmt der Film die Gestalt eines Kammerspiels an: Es ist, als sitze man vor einer kleinen Theaterbühne. Es entsteht der Eindruck, dass man alles, was in der Hütte geschieht, jedes Fingerzucken und jeden geheimnisvollen Blickaustausch, überschauen könnte. Der Western erinnert in diesem Sinne an den Filmklassiker „Die zwölf Geschworenen“ von Sidney Lumet (1957) und besonders stark an Tarantinos ersten kommerziellen Film „Reservoir Dogs – Wilde Hunde“ (1991), in dem acht Männer, die sich – ausgenommen ihren zwei Bossen – untereinander nur unter ihren verschiedenfarbigen Decknamen kennen, nach einem gescheiterten Raubüberfall in einer Lagerhalle versammeln und in einem großen Durcheinander von Misstrauen, falschen (und wahren) Vorwürfen, Angst, Wut und Betrug nacheinander gegenseitig abschießen.
Was „The Hateful Eight“ noch mehr zu einer Art Western-Version von „Reservoir Dogs – Wilde Hunde“ macht, ist, dass im Gegensatz zu anderen Werken Tarantinos dem Zuschauer keine deutlichen Hinweise dazu gegeben werden, auf wessen Seite er stehen soll. Es gibt keine „moralischen“, ehrenhaften Charaktere, die als Gegenstück zur ungehemmten Gewalt der Schurken fungieren oder gar wie Django oder Beatrice Kiddo zum Ausführer der blutigen, aber wohlverdienten Rache am absoluten Bösen werden. In „Minnie’s Haberdashery“ sind wir eben ausschließlich unter Schurken. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wird aufgehoben, es erfolgt nicht mal eine scheinbare Katharsis, die den Zuschauer erleichtert aufatmen lässt. Ursprünglich startete die Idee für „The Hateful Eight“ aus Tarantinos erstem Western „Django Unchained“ (2012), das Projekt hieß „Django in White Hell“. Tarantino entschloss sich aber, Django nicht zur Hauptperson zu machen, sondern eine völlig neue Geschichte zu erzählen, eben eine, in der wir keine Vorstellung von Wertebildern oder Verhaltensmuster der Protagonisten haben können. Somit hat man eine gewisse emotionale Distanz zu den Charakteren – richtig weh tut es nur, wenn dem ein oder anderen persönlichen Lieblingsschauspieler in den Bauch geschossen wird (Oh nein, bitte nicht Tim Roth!).
Neben den üblichen Verdächtigen wie Michael Madsen, Samuel L. Jackson und Tim Roth, die bereits seit den Neunzigerjahren mit Tarantino zusammenarbeiten und deren schauspielerische Brillanz nicht enttäuscht, zumal die meisten Rollen auch spezifisch für sie geschrieben wurden, beeindruckt Walton Goggins, der in „Django Unchained“ als Sklavenkampftrainer spielte, in der Rolle des quecksilbrigen, urkomischen Chris Mannix. In dem von ganzen fünf Personen bestückten Freitagnachmittagskino wurde in den Szenen, in denen Mannix seinen hektischen, über-sassy Slang-Wortschwall hervorquellen lässt, das Gelächter entschieden laut. Jennifer Jason Leigh wurde für ihre Rolle für einen Oscar nominiert, den sie meines Erachtens auch völlig verdient hat. Die zynische Verbrecherin Daisy Domergue stielt die Schau, auch weil sie einiges über sich ergehen lassen muss: Sie wird an Ruth angekettet und muss sich Gehirnstücke aus den Haaren ziehen, ihr wird ins Gesicht geschlagen und ins Bein geschossen. Und sie bleibt dabei trotzdem rotzfrech und cool. Aufgrund der Brutalität, mit der Domergue behandelt wird, musste Tarantino jede Menge Vorwürfe einstecken. Na gut, den Bechdel-Test (zur Beurteilung der Stereotypisierung weiblicher Figuren im Film) würde der Film nicht bestehen, aber dennoch ist es nicht bestreitbar, dass Tarantino mit Daisy Domergue mal wieder eine beeindruckend starke Figur geschaffen hat, wie es sie für Frauen in Hollywood selten gibt.
Tarantino-Fans wird es auf keinen Fall langweilig: Man stößt auf eine Menge vertraute Gesichter (nur drei der Schauspieler, inklusive Nebendarsteller, sind zum ersten Mal in einem Film Tarantinos) und zahlreiche augenzwinkernde Anspielungen: Red Apple-Zigaretten, der gut gezielte Schuss in den Schritt, die typischen politisch inkorrekten Dialoge, Nahaufnahmen von Füßen und natürlich Tarantino höchstpersönlich, dieses Mal als Erzähler. Also heißt es: Augen und Ohren geöffnet halten! Tarantino führt den Zuschauer mal mit langsamen, gemächlichen Schritten, mal wie wild rennend, aber stets kunstvoll durch sein Universum voller verbrecherischer Intriganten. Auch der von Ennio Morricone komponierte düstere, mysteriöse Soundtrack sitzt tief im Gehirn, noch lange nachdem man benommen den Saal verlassen hat und darüber witzelt, dass sogar die Wände des Kinos rot sind.
Von Jin Oehmann